Kirche Mariensee Teil I |
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7 Inhaltsverzeichnis: Seite Das Zisterzienser-Nonnenkloster Mariensee….. ………………………….....9 Lage und Bedeutung Zur Geschichte des Nonnenklosters………………………………………….11 Verlegung eines bestehenden Konvents Die Ordenszugehörigkeit Zum Problem klösterlicher Frauenbewegungen innerhalb der Männerorden Der Stifter und seine Gründung – Verbindungen des Stifters nach Westfalen Zur Organisation des Klosterbaus …………………………………………...20 Einfluss aus dem westfälischen Marienfeld – Zur Entwicklung des Gewölbebaus Entwicklung frühgotischer Architektur am Rhein und in Westfalen Die architektonische Nähe der Marienseer Kirche zu Marienfeld Der Bau der frühgotischen Kirche in senkrechten Abschnitten Beschreibung des Kirchengebäudes ………………………………………....43 Der Backsteinbau des Klosters Mariensee – Bearbeitung der Ziegel Die äußere Erscheinung der Klosterkirche Das Innere der Klosterkirche………………………………………………..60 Die polygonale Apsis – Gebote des Ordens zur Bestattung in der Kirche Das Kirchenschiff – Die Nonnenempore Die Unterkirche – Die Unterkirche als Begräbnisraum Die frühe Gestaltung der Klosterkirche……………………………………..77 Ausmalung des Kirchenraums – Verglasung der Kirchenfenster Das romanische Kruzifix Kunstwerke der Spätgotik …………………………………………………...87 Hochaltar – Emporenaltar – Vortragekreuz – Chororgel Madonna – Taufstein – Kirchenschatz – Das Gebetbuch der Odilia von Alden Exkurs………………………………………………………………………...94 Die Ablassurkunde für Mariensee von 1312 Von Marienfeld und Mariensee sich verbreitende Einflüsse auf die Architektur Ostfrieslands Literatur……………………………………………………………………....968 9 Abb. 1: Mariensee, Zisterzienserinnen-Kloster. Die spätbarocke vierflügelige Klosteranlage von Süden mit der Abteikirche aus dem 13. Jahrhundert im Nordosten. Unten rechts außerhalb, die frühe sanitäre Anlage des Klosters. Luftbild von 1987, Archiv Kloster Mariensee. Das Zisterzienser-Nonnenkloster Mariensee Lage und Bedeutung Das Frauenkloster Mariensee liegt am Ortseingang des Dorfes gleichen Namens nordwestlich von Neustadt am Rübenberge in Niedersachsen. Es gehört neben Barsinghausen, Marienwerder, Wen-ningsen und Wülfinghausen zu den fünf Calenberger Klöstern, die als Eigentum des Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds von der Klosterkammer Hannover verwaltet werden. Das Klostergut Mariensee – gegenüber von Kirche und Konventgebäude – dient gegenwärtig wissenschaftlichen Zwecken und genießt als Institut für Tierzucht und Tierverhalten internationalen Ruf. Unweit des Leineufers am Rand ausgedehnter Waldungen gelegen, ist die imposante Stiftan-lage (Abb.1), bestehend aus einem spätbarockem Gebäudegeviert mit der frühgotischen Backsteinkir-che, ein reizvoller Anziehungspunkt für den Besucher des Calenberger Landes. Das ehemalige Zister-10 zienser-Nonnenkloster, eine der frühen Gründungen dieser Art in Niedersachsen, erlebte seine bedeu-tendste Zeit im Hochmittelalter und später in der Zeit des welfischen Absolutismus. Seit dem Jahre 1540 begann die Witwe des Herzogs Erich I. von Braunschweig-Lüneburg Elisabeth die lutherische Lehre im Calenberger Land einzuführen. Unterstützung bekam sie von dem aus dem Orden der Zister-zienser kommenden Reformator Antonius Corvinius, der eine evangelische Kirchen- und Klosterord-nung erarbeitete, wonach die Klöster nicht aufgelöst, sondern zur neuen Lehre umgewandelt wurden. 1 Das tägliche Gebet der Nonnen wurde beibehalten, römisch-katholische Zeremonien dagegen abge-schafft. Das Klostervermögen wurde von der Landesherrschaft nicht eingezogen, sondern sorgfältig inventarisiert und unter die Kontrolle der Regierung gestellt. Somit ist es ein Verdienst der Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen, den Grundstein für die spätere Entstehung des Allgemeinen Klos-terfonds gelegt zu haben, den heute die Klosterkammer Hannover – eine niedersächsische Landesbe-hörde – verwaltet.2 Der Sohn der Herzogin, Erich II., verfolgte 1545 mit seinem Übertritt zur katholi-schen Konfession zwar wieder eine gegenläufige Politik. Doch die reformatorischen Absichten seiner Mutter setzten sich nach seinem Tod 1584 letztlich durch, als 1588 die Erbfolge an seinen protestanti-schen Vetter Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel ging. Dieser führte in allen Klöstern die evangeli-sche Lehre verbindlich ein.3 Wie in seinem Stammland Wolfenbüttel verfügte er, dass auch in Calen-berg die Klöster samt ihrem Vermögen nicht eingezogen werden sollten und handelte im Sinne seiner verstorbenen Tante Elisabeth von Calenberg-Göttingen. Als Schatz dieser Lande zu erhalten, sie zu gottseligen Sachen zu gebrauchen und zu reformie-ren, nämlich zu Unterhaltung der Pfarren, zu Hospitälern, zu Knaben- und Mägdleinschulen, zur jähr-lichen Aussteuerung einiger armer Jungfrauen vom Adel.4 Als 1618 der Dreißigjährige Krieg ausbrach, hatte Mariensee schon zuvor wegen der hohen Abgaben, die es nach Wolfenbüttel leisten musste, beträchtliche Einbußen seiner Klosterwirtschaft hinnehmen müssen. Doch im Verlauf des Krieges mussten Haus und Konvent bis zur vollständigen Plünderung viel erdulden. Das Kloster verfiel zusehends und musste bis auf die Kirche im 18. Jahr-hundert neu errichtet werden, wobei man den Bau für 13 Konventualinnen in abgeschlossene Woh-nungen aufteilte. Mariensee ist der Geburtsort des Theologen und Dichters Ludwig Hölty (1748–1776), eines Mitglieds des Göttinger Hainbundes. Sein elegisches Lied Üb immer Treu und Redlichkeit wurde über die Grenzen des damaligen Königreiches Hannover weltweit bekannt. Nach Wandlungen und Anpassungen im Verlauf der vielen Jahrhunderte, in denen das Kloster ununterbrochen fortbestand, kommen heute in die Gemeinschaft alleinstehende Frauen, die sich bereits in der modernen Welt bewährt haben. Was sie im Kloster Mariensee zusammenführt, ist die Aufge-schlossenheit für die jahrhundertealte Tradition dieser Örtlichkeit und die Bereitschaft, deren Bedeu-tung für Menschen der Gegenwart neu ins Bewusstsein zu rücken. Dem Konvent der Stiftsdamen, denen nach einer Bewerbung von der Klosterkammer eine Klosterstelle verliehen wurde, steht eine Äbtissin vor. Zur heute regen Öffentlichkeitsarbeit Mariensees gehören Kirchen- und Klosterführun-gen sowie ein umfangreicher Katalog von Konzerten, Vorträgen, Ausstellungen und Kursen diverser Art im Jahreslauf. Die Gründung des Klosters Mariensee geht auf den Grafen Bernhard II. von Wölpe (1168–1221), ein Gefolgsmann Heinrichs des Löwen, zurück. Bis zur Wende zum 13. Jahrhundert hatte das sächsische Lehngrafen-Geschlecht mit dem Stammsitz Burg Wölpe in Erichshagen bei Nienburg ein Territorium zwischen Leine und Mittelweser aufgebaut.5 Dazu gehörte auch die Burg Landestrost an einem Leineübergang, aus deren bürgerlicher Ansiedlung die Stadt Neustadt am Rübenberge hervor-ging. Noch zum Ende des 12. Jahrhunderts traf die Grafenfamilie Vorbereitungen zur Gründung ei-nes Hausklosters, das sie an ihrem Haupthof Catenhusen bauen wollten und dem sie dann den Namen Mariensee gaben. Sinn und Aufgabe von Kirche und Kloster Mariensee waren ein geistiges Zentrum für das Herrschaftsgebiet Wölpe und eine Grablege seiner Grafen an einem geweihten Ort, wo bestän- 1 HAMANN/GRAEFE, Germania Benedictina 1994, S. 447. 2 SPERLING 1974. 3 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 447, 448. 4 BRENNEKE/BRAUCH 9. 5 DUENSING 1999. Graf Bernhard II. v. Wölpe 1168–1221, Landesherr der Grafschaft Wölpe, die sich nord-westlich von Neustadt am Rübenberge erstreckte. Bei Nienburg-Erichshagen lag der Stammsitz, Burg Wölpe. Die Grafschaft bestand bis 1302 und ging später im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg auf. 11 dig für das Seelenheil der Mitglieder des Herrscherhauses gebetet wurde. Eine genaue Zeitbestimmung der Klostergründung ging aus der Quellenlage bisher nicht hervor, sie gilt aber gleich zu Beginn des 13. Jahrhunderts als gesichert. Nach dem Willen des Stifters und des Bischofs von Minden sollte es ein Frauenkloster des Zisterzienserordens werden. Zudem beabsichtigten sie den Bau einer Kirche, die in ihrer Großartigkeit jedem Vergleich mit den Gründungen jener Zeit standhalten konnte. 6 Diese Kirche – ein hochragender Backsteinbau – ist allein aus der Gründungszeit erhalten ge-blieben. Sie ist zur Zeit ihrer Entstehung nicht nur ein absolutes Novum unter den Sakralbauten im Gebiet nördlich von Hannover, sondern auch im gesamten norddeutschen Raum gewesen. Ohne ein direktes Vorbild, das man im Westen am Rhein oder zwischen Rhein und Weser vermuten müsste, ist Mariensee im Mittelalter als vollendetes Ziegelbauwerk im frühgotischen Stil verschiedener Strömun-gen erstellt worden. Die mitten im romanisch geprägten sächsischen Gebiet urplötzlich auftretende fortschrittliche Bautechnik an der Kirche eines Frauenklosters steht mit Herkunfts- und Entstehungs-geschichte im Mittelpunkt dieser Arbeit. Zur Geschichte des Nonnenklosters Verlegung eines bestehenden Konvents Die Erwähnung einer Stätte mit der Bezeichnung Mariensee ist erstmals in einer Urkunde vom 27. November 1207 zu finden.7 Der askanische Herzog Albrecht von Sachsen beschenkt sie mit einer Mühle und drei Häusern vor der Düsselburg unweit Rehburg. Eine ähnliche Funktion wird der nicht datierten welfischen Förderung zukommen, die von dem ältesten Sohn Heinrichs des Löwen, Herzog Heinrich von Sachsen und Pfalzgraf bei Rhein wohl ebenfalls um oder vor 1207 gemacht worden war.8 Nach Ansicht der Autoren Hamann und Graefe bedeuteten die Schenkungen die Anerkennung einer geplanten Klosterstiftung durch die ersten Fürsten dieses Raumes. Man möchte daraus schließen, dass der Stifter sich früh welfischer Zustimmung vergewisserte.9 Die Ereignisse, die sich im Verlauf von acht Jahren aufreihen, lassen von 1207 an eine durchgehende Aktivität zum Aufbau einer Kloster-anlage vermuten. In der Fortsetzung der frühen Urkunden des Klosters Mariensee erfolgte am 19. September 1215 eine einvernehmliche Übereinkunft zwischen dem Grafen Bernhard II. von Wölpe, dem Bischof Konrad I. von Minden (1209–1237) und einem Frauenkonvent Vorenhagen.10 Es wurde angeordnet (ordinatum): Die Frau Äbtissin zieht mit dem ganzen Konvent der Frau-en und der Konversen (conversorum bzw. fratrum) nach Mariensee um und nimmt alle ihnen übertra-genen Besitzungen an Zehnten, Hufen und Villikationen mit. Ausgenommen bleibt die Villikation Vo-renhagen mit dem zugehörigen Eigenwald, also die alte Wohnstätte des Konvents mit ihrer Bewirt-schaftung, die mit ihren Rechten an Bischof Konrad zurückfällt, wie sie Bischof Dietmar (1185–1206) besaß. Zur kirchlichen Rechtsstellung des neuen Klosters wird gesagt, dass es mit all jenen Rechten, welche die Ordensregel einem Bischof überlässt, der Mindener Kirche unterworfen sein soll. In der weltlichen Ordnung soll es sich aber niemandes Herrschaft unterstellen, es sei denn mit bischöflicher Zustimmung, was einen Verzicht des Grafen von Wölpe auf die Vogtei bedeutete.11 Mit der Verlegung eines bereits bestehenden Konvents zu einem neuen Klosterort gehörte das Kloster Mariensee zu den nicht seltenen Fällen, bei denen die Formierung eines Konvents schon vor Bezug der endgültigen An-lage erfolgte. Der ursprünglich genannte Konvent – eine klösterliche Frauengemeinschaft Vorenhagen – war noch während der Amtszeit des Mindener Bischofs Dietmar (1185–1206) gegründet worden und be-stand während der Zeit Bischof Heinrichs (1206–1209). Die Bezeichnung einer bischöflichen Stätte, Siedlung oder Kloster mit dem Namen Vorenhagen ist aber nach der Gründung Mariensees nicht mehr 6 WÄTJEN 1970, S. 2. Der Autor nennt leider nicht die Quelle. 7 CALENB. UB 5, Nr. 2. 8 CALENB. UB 5, Nr. 1. 9 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 441–442. 10 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 439. 11 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 438, 439. CALENB. UB 5, Nr. 6 u.7 = WUB 6, Nr. 63 u. 64. 12 eindeutig zu lokalisieren. Die bisherige Geschichtsforschung nennt mehrere Möglichkeiten. So wird zunächst eine Wüstung Warnhagen genannt, die in der Stadt Neustadt aufgegangen sein soll. Die zweite Theorie gilt einem Hof in der Gemeinde Gilten an der Straße Gilten-Nienhagen-Rodewald. Der Mindener Bischofschronist Hermann von Lerbeck berichtet dagegen von einem Kloster, das auf dem Wittekindsberg bzw. Margarethenberg oberhalb Porta-Westfalica gegenüber Hausberge fundiert wor-den ist. Es sei dann nach einem Waldstück Vorenhagen beim Ort Todtenhausen zwischen Minden und Petershagen auf das linke Weserufer verlegt worden, wo es zwei Jahre blieb. Hamann/Graefe verwei-sen schließlich auf die Hagenhufsiedlung Vornhagen im Kirchspiel Propsthagen bei Stadthagen, die im bischöflichen Besitz war und deren Name allein auch in der Folgezeit noch mehrfach genannt wird. So verfügt der Bischof darüber 1269, 1274, 1299 und 1306, als er Güter u. a. in Vornhagen bzw. Va-renhagen an Adlige verpfändet. 12 Auch hier bestand die Möglichkeit, dass ein Vornhagen bei Stadthagen die erste Heimstätte des späteren Marienseer Konvents war. Neuere Erkenntnisse weisen wiederum in den Raum Gilten und Nienhagen, wo in Luftbildaufnahmen an der Erdoberfläche angeb-lich Fundamentlinien einer Anlage mit einem größeren Bau (Kirche?) erkennbar waren.13 Nach sicherlich schon längerer Anlaufphase gab es spätestens seit 1207 einen konkreten Plan, dem Vorenhagener Konvent am Wölper Besitz Catenhusen eine neue Heimstatt unter der Bezeichnung Mariensee zu errichten. Dieses muss unter dem Hauptstifter Bernhard II. von Wölpe bis September 1215 soweit verwirklicht worden sein, dass die Frauen umziehen konnten. Die Mindener Bischof-schronik des Dominikaners Hermann von Lerbeck (†1400) berichtet übereinstimmend mit den ge-nannten Urkunden, dass auf Veranlassung des Grafen Bernhard das Kloster Mariensee am 19. Sep-tember 1215 dorthin verlegt worden sei, wo es sich jetzt noch befindet.14 Der Verlegung folgte drei Monate später – am 27. Dezember 1215 – der rechtliche Abschluss der Klosterstiftung. Graf Bernhard II. von Wölpe ließ die Stiftung des Klosters Mariensee von einem Notar urkundlich festhalten, wobei seine Gattin, drei Töchter und Schwiegersöhne ihre Zustimmung bekundeten. Der damit verbundene Schenkungskatalog, die von anderen Seiten erfolgten Zuwendun-gen und Stiftungen sowie die Zusammenlegung des Besitzes des Konvents Vorenhagen mit dem von Mariensee stellte das neue Kloster nun auf eine wirtschaftliche Basis.15 Die Urkunde vom 27. Dezember 1215 berichtet aber auch von der Gründung einer Kirche zur Ehre Gottes, der gebenedeiten Jungfrau Maria, des heiligen Evangelisten Johannes und aller Heili-gen.16 Im Urkundentext ist von einer Weihe der Kirche zwar keine Rede, doch da sie auch später nicht mehr genannt wird, könnte die Erwähnung der Heiligen zu diesem Zeitpunkt gleichbedeutend mit der Weihe der Kirche gewesen sein. Die Nonnen hatten somit einen geweihten Raum für die Messfeier, auch wenn nur ein Teil der Klosterkirche mit ihrem Altar fertiggestellt war. Nach Kimpel/Suckale erhielten bei der Weihe Altar und Kirchenraum jeweils ein Patrozinium, d.h. sie wurden einem oder mehreren Titelheiligen unter Einfügung ihrer Reliquien geweiht. Diese feierliche Handlung erfolgte grundsätzlich vor ihrer Ingebrauchnahme, zumeist unter Anwesenheit hoher geistlicher und adliger Würdenträger, was in Mariensee nach den Unterzeichnern der Urkunde am genannten Stiftungstag gegeben war. Die feierliche Schlussweihe konnte dagegen lange nach Abschluss der Arbeiten erfol-gen.17 Es ist also nicht auszuschließen, dass der 27.12.1215 mit der Nennung der Gründung und des Patroziniums der Klosterkirche auch die Weihe des bis dahin fertiggestellten Teils der Kirche gemeint war. 12 HAMANN / GRAEFE 1994, S. 441. 13 Freundliche Auskunft von Herrn Eberhard Doll, Vechta, der sich auf Erkenntnisse des Historikers Bernd Ul-rich Hucker bezieht. Veröffentlichungen darüber sind jedoch nicht bekannt. 14 HAMANN / GRAEFE 1994, S. 440. 15 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 438, 439. CALENB. UB. 5, Nr. 7. 16 CALENB. UB 5, Nr. 6 u. 7. S. 11-16. (WUB 6, Nr. 63 u. 64.) 17 KIMPEL/SUCKALE 1985, S. 555.13 Die Ordenszugehörigkeit Das Kloster Mariensee nennt sich seit seiner Gründung dem Orden der Zisterzienser zugehö-rig. Zwischen den Zeilen der Überlieferungen finden sich reichliche Hinweise, dass die Entscheidung für eine strengere Observanz als Benediktiner oder Augustiner offensichtlich schon in den Anfängen getroffen wurde. So wurden 1215 beim Umzug von Vorenhagen sowohl ein Konvent mit Äbtissin als auch Konversen genannt, Begriffe, die auf den Orden der Zisterzienser hindeuteten. Außerdem ver-sprach der Bischof die Ordensstatuten nicht zu verletzen, eine Grundvoraussetzung der Zisterzienser ohne Einfluss des Bischofs ein Kloster einzurichten, womit vieles auf eine Hinwendung zu den Regeln von Cîteaux deutet. Die Stifterfamilie nennt in ihren Urkunden zum Kloster Mariensee stets die Zuge-hörigkeit zum Zisterzienserorden. In einer Urkunde von 1231 erfahren wir erstmals amtlich vom Mindener Bischof Konrad, dass Mariensee zum Zisterzienserorden gehörte.18 Ebenso wird 1251 Mari-ensee als Kloster des grauen Ordens bezeichnet.19 Unbedeutend ist dagegen, dass 1260 die Nonnen im Ablass des Erzbischofs Engelbert II. von Köln einmal Benediktinerinnen genannt werden.20 Abgesehen von Kloster Wöltingerode bei Vienenburg, das schon vor 1188 als Filiation von Münster von dem Grafen Wöltingerode-Wohldenberg gegründet worden war, entstand mit Mariensee um 1207 vorbildhaft eines der ältesten Nonnenklöster in Niedersachsen nach den Regeln der Zisterzi-enser. Wahrscheinlich eröffneten damit die Gründer Mariensees die Reihe der zahlreichen Nonnen-klöster in Niedersachsen und folgten damit einem religiösen Zeittrend des 13. Jahrhunderts.21 Die Aufgaben der Nonnen in der Fürbitte, ihre Pflicht zur Teilnahme am täglichen Messopfer und an den vielen Stundengebeten war die Regel und ließ ihnen kaum Zeit selbst etwas in die Hand zu nehmen. Deshalb standen Ihnen zur Seite die Laienschwestern, ebenfalls unter einem Gelübde, aber durch we-niger Chordienst für praktische Arbeit freigestellt. Für Konvent, Bischof und Stifter wird sich früh die Frage nach der Ordenszugehörigkeit ge-stellt haben, weil diese den zukünftigen Weg des Klosters vorzeichnete und alle folgenden Entschei-dungen davon abhängig waren. Arbeitete man auf das Ziel hin, in den Zisterzienserorden aufgenom-men zu werden, musste man sich im vorauseilenden Gehorsam an die strengen Regeln des Ordens halten. Dies war nicht nur für das Zusammenleben der Nonnen wichtig, sondern für alle Dinge des neuen Klosters ausschlaggebend. Die Regeln betrafen auch den Stifter Graf Bernhard von Wölpe, der mit der Gründung der weiblichen Ordensniederlassung die Voraussetzungen für einen funktionieren-den Klosterbetrieb zu schaffen hatte. Deshalb mussten seine Stiftungsdotationen in vieler Hinsicht reichlich bemessen sein. Es sollten nicht nur Gebäude zum Leben und Schlafen sowie eine Kirche vorhanden sein, sondern auch für den Unterhalt aller im Kloster musste gesorgt sein. Dazu waren Ländereien in ausreichender Zahl und Größe notwendig, deren Bewirtschaftung so organisiert war, dass die Erträge zunächst zur Ernährung des gesamten Klosterbetriebes ausreichten. Darüber hinaus sollten Überschüsse erwirtschaftet werden, damit durch Verkauf Geldmittel ins Kloster zurückflossen, um kostenpflichtige Ausgaben leisten zu können. Selbst wenn in den ersten Jahren durch Spenden und Stiftungen alles zum Anschub des Klosterbetriebs getan war, musste sich seine Lebensfähigkeit nach Ausbleiben weiterer Stiftungen erst herausstellen. Den Nonnen blieb das Problem, für alle Bauvorha-ben oder Bauunterhaltungen nicht auf eigene Kräfte zurückgreifen zu können, sondern stets auf be-zahlte Handwerker angewiesen zu sein. Ein ständiger Ausgabenposten war der Unterhalt der Kleriker im Kloster. Zu ihnen gehörte ein Propst, der dem Kloster mit geistlichen sowie verwaltungstechni-schen Aufgaben vorstand und dem mehrere assistierende Priester unterstanden.22 Ihre Aufgabe war es, neben dem Stundengebet der Nonnen im Kloster die heilige Messe zu feiern, um den vollständigen 18 WUB 6, Nr. 1026, 1627, WUB 10, Nr. 155 u. 179. 19 HERMANN V. LERBECK, S. 173. 20 HAMANN / GRAEFE 1994, S. 445. CALENB. UB 5, NR. 70. 21 Bersenbrück 1231; Börstel 1246; Braunschweig, Kreuzkloster, seit 1406 für Zisterzienserinnen; Derneburg, seit 1442 für Zist.; Himmelpforten bei Stade 1255; Höckelheim bei Northeim 1247; Isenhagen, Lüneburger Hei-de seit 1265 für Zist.; Lesum 1238, Lilienthal 1232; Mariengarten 1245; Mariensee gegr. vor 1207 in Vorenha-gen; Medingen 1241; Meerhusen bei Aurich 1219; Osterode, Harz 1243, Rinteln seit 1267 Zist.; Rulle, gegr. 1230 in Harste; Wiebrechtshausen bei Northeim vor 1240. Wienhausen 1221; Wöltingerode vor 1188. (Heutger) 22 DOLL 2008, Doll vermutet, dass anfangs neben dem Propst bis zu acht Priester im Kloster waren.14 Verpflichtungen des Totengedenkens gegenüber den Stiftern nachkommen zu können. Darüber hinaus hatten sie die Beichte zu hören und die seelsorgerische Betreuung der Nonnen zu leisten. Zum Problem klösterlicher Frauenbewegungen innerhalb der Männerorden Nach Forschungen von Nicolaus Heutger musste die religiöse Frauenbewegung des Hochmittelalters von der zisterziensischen Spiritualität voll erfasst gewesen sein. Der weibliche Zweig des Ordens war bereits 1132 in Frankreich durch Elisabeth de Conzy gegründet worden. Nach Mariensee zu Beginn des 13. Jahrhunderts folgen bis 1260 nicht weniger als 13 weitere Nonnenklöster im niedersächsischen Raum. Allerdings entspricht der nie-dersächsische Befund erstaunlich genau dem in anderen Gebieten Deutschlands.23 Die Aktivität dieser frühen Frauenbewegung wurde aber von den etablierten Männerorden keinesfalls positiv gesehen. Die Einrichtung weiblicher Zweige war von den Spitzen der meisten Orden aus bestimmten Gründen nicht erwünscht und konnte oftmals nur gegen Widerstand durchgesetzt werden. Dies galt besonders für die Zisterzienser, wo Frauenklöster, die die zisterziensischen Lebensgewohnheiten annahmen, vergeblich um Anschluss an den Orden ersuchten. Gerade in der Gründungswelle von 1200–1250, eben der Zeit von Mariensee, versuchte das Generalkapitel von Cîteaux von Anfang an mit hohen Auflagen die Bildung neuer Konvente zu erschweren. Es begegnete dem Bestreben mit dem 1220 erstmals erlassenen und 1228 nochmals verschärften strikten Aufnahmeverbot für Nonnenklöster in den Gesamtorden. Als diese Maßnahmen nicht ausreichten, be-schloss man in Cîteaux 1244, dass die Inkorporation eines Klosters den Verzicht des Diözesanbischofs auf seine Rechte voraussetze. Und diese Bedingung war äußerst schwer zu erfüllen. Letztlich reagierte das Generalkapitel wohl mit Gleichgültigkeit. So ordnete es zwar nach dem Ersuchen Papst Gregors IX. 1241 beim Kloster Medin-gen eine Inspectio, also die eingehende Besichtigung an, doch in der Folgezeit erscheint Medingen nie mehr in den Statuten. Auch in Wienhausen hört man im Jahre 1244 von einer Inspectio, und wieder ist hohe Protektion nachweisbar. Der Herzog von Braunschweig hatte beantragt, das Kloster dem Orden zu inkorporieren. Dann aber kommt Wienhausen nie wieder in den Statuten des Generalkapitels vor. Offenbar sollte mit der zunächst entge-genkommenden Behandlung einzig der päpstlichen, bzw. der herzoglichen Bitte Genüge getan werden. Auch bei allen anderen Frauenklöstern ergibt sich allgemein das merkwürdige Bild, dass sie in den Generalkapitel-Statuten nicht erwähnt werden. Das Kloster Lilienthal bei Bremen, das man als einziges Zisterzienserinnenklos-ter dem Orden zugehörig betrachtet, erscheint 1258 mit einer Inspectio durch Loccum und Marienthal und dann im 15. Jahrhundert im Verzeichnis derjenigen Nonnenklöster, die den Äbten von Cîteau und Clairvaux direkt unterstellt sind. So müsste man eigentlich Lilienthal als dem Orden inkorporiert ansehen, doch sind auch hier Zweifel angebracht. Im Register des 15. Jahrhunderts sind süddeutsche Äbte als Visitatoren angegeben, so dass wahrscheinlich ein anderes Kloster Lilienthal gemeint war. Daraus ergibt sich, dass die niedersächsischen Zisterzienserinnenklöster mehr oder weniger – das Ver-bot des Privateigentums wurde besonders gern umgangen – der Ordensgesetzgebung folgten. Sie nannten sich oft und gern Mitglieder des Zisterzienserordens, gehörten rechtlich aber nicht dazu. Im Laufe ihrer Geschichte genossen sie aber hin und wieder eine gewisse Betreuung durch Zisterzienseräbte. Dagegen waren die für die Organisation wichtigen Pröpste der Frauenklöster keine Zisterzienser.24 Die weiblichen Gemeinschaften hatten also Kleriker und Verwalter, die aus der Klosterwirt-schaft ernährt und finanziert werden mussten. Ein weiterer wirtschaftlicher Nachteil gegenüber den Mönchsklöstern, deren eigene Kräfte zur Messzelebration sowie Verwaltung keine zusätzlichen Kos-ten verursachten.25 Aus den Erfahrungen heraus, dass seit der ersten weiblichen Klostergründungen in Frankreich nach 1132 oftmals die Voraussetzungen aus wirtschaftlichen Gründen nicht erfüllt waren und die Stiftungen daraufhin kläglich scheiterten, riet das Generalkapitel des Ordens grundsätzlich von den Gründungen der Nonnenklöster ab. Man sah wahrscheinlich auch die katastrophalen sozialen Fol-gen für die Frauen, die damals in großer Zahl in die neuen Klöster strebten, ihre Mitgift einbrachten und bei einem endgültigen Aus unversorgt vor dem Nichts standen. 23 KUHN-REHFUS 1980, S. 125. 24 HEUTGER 1993, Zusammenfassung aus: Zisterzienser-Nonnen im mittelalterlichen Niedersachsen, S. 57–61. 25 KRÜGER, S. 258.15 Der Stifter und seine Gründung Niederschriften über den Bau von Kirche, Klausur und Wirtschaftsgebäuden der Klöster sind allgemein in den Stiftungsbüchern und frühen Urkunden kaum zu finden. Nach Matthias Untermann war es bis ins 13. Jahrhundert üblich, die Gründungszeit zumeist recht detailfreudig darzustellen, zum Bau der monumentalen Klosterkirchen und der großen Klausurbauten schweigen dann die Quellen und liefern bestenfalls Andeutungen über Grundsteinlegungs- oder Weihedaten. Ein Sonderfall war dabei schon die große hölzerne Stiftertafel des Klosters Dargun, die bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten war. Sie zeigte alle Stifternamen mit geleisteten Geldbeträgen zum Neubau von Kirche und Teilen der Klausur. 26 Auch im westfälischen Marienfeld legte man 1988 eine schon im 14. Jahrhundert vermau-erte Memorialtafel frei, die mit den Namen der Stifter Gewissheit über die früheste Vergangenheit des Klosters gab.27 In Bezug auf das Frauenkloster Mariensee gibt es zwar eine Reihe von frühen Urkunden, die allerdings nur geringe, wenig präzise Informationen über den Bau der Klosteranlage liefern. Vor allem über die Entstehungsgeschichte der Kirche wissen wir sehr wenig. Es bleibt, zuweilen zwischen den Zeilen der Urkunden zu lesen und den Hinweisen nachzugehen, die die Bauforschung aus den Spuren an der mittelalterlichen Klosterkirche liefert. Sie müssen für ein Gerüst reichen, dass mit Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten sowie Erfahrungen aus anderen Zisterzienserinnenklöstern zu einem Bild vervollständigt wird. Von Mariensee ist anhand der frühen Urkunden überliefert, dass der Hauptstifter der Landes-herr Graf Bernhard II. von Wölpe war. 28 Eine Klosteranlage zu Beginn des 13. Jahrhunderts in einem eher unzugänglichen Land aus dem Boden zu stampfen, war für den Gründer eine Herkulesaufgabe. Anscheinend stellte sich Bernhard von Wölpe diesen Herausforderungen, galt es doch, nach dem Trend der Zeit den landespolitischen Erfolgen das Werk einer frommen Stiftung hinzuzufügen. Die dafür nötigen erheblichen Mittel stellte er bereit, indem er weitere Stifter für die Sache gewinnen konnte; letztlich waren es umfangreiche Summen, die viele andere Ritter und Landesherren damals in Ausrüstung und Unterhalt zur Teilnahme an einen Kreuzzug steckten.29 Beim Bau der Klosteranlage orientierte sich der Graf von Wölpe an Vorgaben, die im Verlauf des 12. Jahrhunderts vom Zisterzien-serorden entwickelt worden waren. Als adliger Klostergründer und Hauptstifter begab er sich in die Pflicht, nicht nur für die Grundausstattung des Klosters zu sorgen, sondern auch für die erforderlichen Bauten zur Unterbringung der Nonnen, Laienschwestern sowie Knechte und Mägde aufzukommen. Deshalb standen dem Konvent umfangreiche Besitzungen und die ihrer Größe für den täglichen Be-darf angepasste örtliche Ökonomie Catenhusen zur Verfügung.30 Die Zisterzienser haben die Existenz einer funktionsfähigen, mehrräumigen Klausur – und sei es in primitivster Form – bekanntlich zur Vorbedingung für die Aussendung eines Gründungskonvents gemacht.31 Für Frauenklöster setzte der Orden sogar voraus, dass die Nonnen fertige Klostergebäude beziehen konnten und nicht mehr mit den Bauleuten in Berührung kamen.32 Unter den historischen Namensformen zu Mariensee nennen Hamann/Graefe als früheste Bezeichnung Ecclesia Vornhagin.33 Nach der Nennung einer Ecclesia stand dem nach Mariensee umgezogenen Konvent allem Anschein nach bereits in seinem alten Heimatort Vorenhagen eine Kirche zur Verfü-gung. Dies lässt vermuten, dass mit dem Umzug nach Mariensee kein Rückschritt verbunden war und der Graf von Wölpe die Zeit von 1207 bis 1215 zur Errichtung von Konventbauten und Kirche genutzt hatte. Eine fertige Klausur bestand aus Aufenthalts- und Speiseraum, Schlafsaal, Gästehaus, Kranken-station und Kreuzgang. Der Stand der Dinge kann für Ende 1215 zwar nur vermutet werden, jedoch 26 UNTERMANN 2001, S. 193. 27 STROHMANN 1994, S. 210–250. 28 DUENSING 1999: Graf Bernhard II. v. Wölpe 1168–1221, Landesherr der Grafschaft Wölpe, die sich nord-westlich von Neustadt am Rübenberge erstreckte. Bei Nienburg-Erichshagen lag der Stammsitz, Burg Wölpe. Die Grafschaft bestand bis 1302 und ging später im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg auf. 29 Bernhard II. von Wölpe hat am Kreuzzug Friedrichs I. Barbarossas 1189–1192 nicht teilgenommen. 30 Eine Liste mit der Aufzählung der Besitzungen Mariensees in einer großen Anzahl von Orten ist aufgeführt in den Bau- und Kunstdenkmalen des Kreises Neustadt a. Rbge. 1976, S. 144. 31 UNTERMANN 2001, S. 196. 32 KUHN-REHFUS 1980. 33 Die Urkunde ist nicht datiert, wird aber vor 1207 angenommen. HAMANN/GRAEFE 1994, S. 438.16 unabdingbar war für den Tagesablauf des Konvents eine geweihte Kirche. 34 Die Weihe eines östlichen Kirchenteils mit seinem Altar war Vorbedingung, um das Messopfer feiern zu können. Selbst wenn die Bautätigkeit weiterging, musste das siebenfache Chorgebet ebenso regelmäßig gehalten werden, wie die tägliche Konventsmesse.35 Das liturgische Officium des Konvents durfte weder in der Grün-dungszeit noch während späterer Um- oder Weiterbauten unter den notwendigen Arbeiten leiden. Dem Marienseer Kirchenheiligtum bestehend aus Apsis und Ostjoch kam zwar später die Aufgabe des Chorraumes für die Priesterschaft zu (liturgischer Chor), er konnte aber zunächst dem Konvent als vorübergehender Gottesdienstraum dienen (Abb. 21). Ein Beispiel zu solch einer Situation liefert der Abt Johannes Harlsen von Marienrode (1406-26). Bei Arbeiten in der Kirche ließ er ersatzweise im Dormitorium auf einem Tragaltar vier Jahre lang die heilige Messe feiern.36 Bei diesem und anderen Beispielen bezieht sich Untermann zwar auf die Ver-fahrensweise bei Männerkonventen, es ist jedoch kaum anzunehmen, dass bei einem Nonnenkloster anders vorgegangen wurde. Ein Merkmal einer beim Umzug 1215 bereits bestehenden Klosterkirche könnte die 1217 da-rin vorgenommene Beisetzung des Edelherrn von Brüninghausen, vermutlich ein Verwandter der Fa-milie Wölpe oder ein Mitstifter des Klosters, gewesen sein.37 Hamann und Graefe nehmen an, dass vier Jahre später auch der Hauptstifter Bernhard von Wölpe in der Klosterkirche beigesetzt wurde. Tatsächlich bleibt sein Begräbnisort unerwähnt. Einzig die Urkunde Ysos von Verden, der zum Tode seines Bruders dem Kloster zwei Höfe und die Kirche in Kirchwehren stiftete, lässt dies vermuten.38 Die Beerdigungen, die nach den Wünschen der Stifter möglichst am Altar in der Nähe der heiligen Reliquien geschehen sollten, setzten voraus, dass auch ein konsekrierter Altar vorhanden war und der Kirchenraum zumindest an dieser Stelle keine Baustelle mehr war, um die Totenruhe einzuhalten und die Fürbitten der Nonnen am Grab zu gewährleisten. Das Generalkapitel des Zisterzienserordens stand zwar noch lange nach diesem Zeitraum Beisetzungen von Stiftern im Kirchenraum sehr kritisch ge-genüber. In den Frauenklöstern scheinen diese Dinge jedoch nicht so eng gehandhabt worden zu sein, zumal die räumliche Nähe des Kirchengrabes zur Empore der Nonnen der Fürbitte um das Seelenheil der Stifter entgegenkam. Nach Erkenntnissen Untermanns ist es jedoch höchst problematisch, aus dem Todesdatum und der Beisetzung eines Stifters darauf zu schließen, dass der Altarraum benutzbar oder gar die Kirche fertiggestellt waren. Die Entscheidungen für oder gegen die Beisetzungen in einem neugegründeten Kloster waren eher von der Einschätzung seiner Zukunftsaussichten abhängig als von fertiggestellten Gewölben.39 Ganz sicher werden – wie Untermann hinzufügt – provisorische Bestattungen seltener überliefert als notwendig gewesen sein. Auch für Mariensee wird der plötzliche Tod des Grafen Wölpe bei Auseinandersetzungen in Friesland 1221 eine herbe Zäsur gewesen sein.40 Die vergangene Zeit seit 1207 erscheint jedoch aus-reichend, unter normalen Umständen und bei der Größe der Kirche bestimmte Bauaufgaben abzu-schließen, zumal der gotische Baubetrieb die Bauzeiten erheblich verkürzte. Die Stiftung Bischof Ysos von Verden für Kirche und Kloster lässt darauf schließen, dass die Finanzierung von Baumaterial und Arbeitskräfte wahrscheinlich gesichert und somit die Zukunftsaussichten positiv waren. Zum Vergleich steht die etwa zeitgleiche Erbauung der monumentalen Zisterzienserkirche He-isterbach, damals die größte Kirche des Rheinlandes. Dort wurden Sanktuarium und Querschiff 25 Jahre nach Baubeginn geweiht (1227). Im gotischen Baubetrieb wurde nur zehn Jahre später das noch wesentlich größere Langhaus vollendet.41 34 Eine Bestätigung dieser Gründungspraxis liefert Kloster Amelungsborn bei Holzminden, das 1129 als Stiftung des Grafen Siegfried von Northeim durch Papst Honorius II. bestätigt wurde. Der vollständige Zisterzienser- Konvent ist aus dem Kloster Altenkamp erst 1135 in die fertiggestellten Gebäude eingezogen. 35 UNTERMANN, S. 195. 36 UNTERMANN 2001, S. 201. 37 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444. 38 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444, 452. Calenb. UB 5, Nr. 11. 39 UNTERMANN 2001, S. 195. 40 DÜNSING 1999, Bernhard II. von Wölpe kam wahrscheinlich bei der Verteidigung eines Burgbesitzes in Friesland gegen den Bremer Erzbischof um. 41 UNTERMANN 2001, S. 205.17 Verbindungen des Stifters nach Westfalen In der Klosterkirche Mariensee gibt es bis heute, selbst nach vielen Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte, architektonische Merkmale, die auffallend mit der Kirche von Marienfeld überein-stimmen. Aufgrund der relativ nahen zeitlichen Baufolge beider Kirchen (Marienfeld nach 1185 - Mariensee nach 1207), ist ein Einfluss des westfälischen Zisterzienserklosters wahrscheinlich. Dieser könnte auch auf persönliche Verbindungen zurückgehen, die zurzeit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zwischen den heutigen Regionen Niedersachsens und Westfalens vorhanden waren. Grundsätzlich prägend für ihr Gebiet und gut vernetzt waren die Oberhirten der betreffenden Bischofs-sitze. In Münster residierte Hermann II. von Katzenelnbogen 1173–1203, Mitbegründer und Spiritus rector des Zisterzienserklosters Marienfeld, zeitlicher Kanzler Friedrich I. Barbarossas (Abb. 3). In Minden folgte auf Heinrich (1206–1209) Konrad I. (1209–1237) im Bischofsamt. Besonders Konrad schien eng mit dem Münsterland verbunden, denn er ließ um 1210 die Ostteile seines Doms in rhei-nisch-westfälischen Formen neu erbauen. Die davon erhaltene Vierung und die Querarme mit den typischen Domikalgewölben erinnern unwillkürlich an die Bauweise nach Plänen Marienfelder Bau-mönche.42 Konrad war einer der vielen hochrangigen Kleriker, die am 4. November 1222 bei der Wei-he der vollendeten Klosterkirche Marienfeld zugegen waren.43 In Verden an der Aller regierte Yso von Wölpe 1205–1231 als ein in der Geschichte hervortretender Bischof (Abb. 2). Auch er wird mit den westfälischen Kirchenfürsten in Verbindung gestanden haben, doch darüber hinaus war Yso ein Bru-der des Marienseer Stifters Graf Bernhard II. von Wölpe. Als Familienangehöriger wird er am Gelin-gen der Neugründung Mariensee interessiert gewesen sein.44 Den Landesherrn Graf Bernhard II. von Wölpe dürfte ein kameradschaftliches Verhältnis mit dem gleichaltrigen lippischen Edelherrn Bernhard II. verbunden haben.45 Beide hatten Herzog Hein-rich den Löwen in seinen Auseinandersetzungen mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa im Sächsischen Krieg als Heerhaufenführer unterstützt.46 Nach Hamann/Graefe hat der Wölper Graf vermutlich dem Sachsenherzog auch als Diplomat wertvolle, zugleich einträgliche Dienste geleistet. Den Chroniken des Arnold von Lübeck und des Gerhard von Steterburg zufolge, nahm Bernhard von Wölpe zwischen 1180 und den 1195 eingetreten Tod Herzog Heinrichs an Gefechten, Belagerungen und Verteidigun-gen unerschütterlich auf welfischer Seite teil. Wenn andere vom Herzog abfielen, blieb er allein treu, sagt der Abt Arnold von Lübeck. Vom Kreuzzug Barbarossas hielt er sich fern, sei es aus Anhänglichkeit an das Welfenhaus, sei es aus kluger Vorsicht. Gelegentlich taucht er im Gefolge des Mindener Bischofs auf, der ihm den Schutz des Klosters Nendorf anvertraute. Von seiner persönlichen Integrität und seinem Ansehen spricht schließlich ein Urteil des Hildesheimer Bischofs Hartbert. Der schildert ihn 1201 als einen Mann, der in den staufisch-welfischen Wirren mit unwandelbarer Treue den Bischof unterstützt habe. In solchen Zeiten habe er einen so beschaffenen Mann als Trost empfunden, den er wegen seiner Kriegserfahrenheit und seines überdurchschnittlichen Glaubens für den bewährtesten halte. Infolgedessen verwandelt er alle ihm übergebenen Hildesheimer Lehen in Weiberlehen.47 Bernhard II. von Wölpe war demnach ein Mann von überdurchschnittlichem Format, und die positiven Aussagen seiner Kirchenfürsten verhalfen vermutlich dazu, dass ihm trotz seiner Parteinah-me nach der Niederlage Herzog Heinrichs 1180/81 sein Besitz erhalten blieb. Als ehemaligen Ge-folgsmann des sächsischen Herzogs hätte unter den veränderten Machtverhältnissen durchaus ein To-talverlust geschehen können, wie das Schicksal seines Kriegskameraden Bernhard II. zur Lippe und zwei weiteren Anhängern Heinrichs des Löwen, Widukind von Rheda und Lüdiger von Wöltingerode-Wohldenberg zeigte. 42 Chor, Vierung und Querschiffarme in Minden ähneln mit ihren Wölbungen dem Bau Marienfelds. 43 BÖHMER/LEIDINGER 1998, S. 34. LEIDINGER 1999, S. 13. 44 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444, 452. Calenb. UB 5, Nr. 11. 45 LEIDINGER 1999, S. 13. 46 Graf Bernhard II. von Wölpe (1168–1221), Edelherr Bernhard II. zur Lippe (1167 †1224 als Bischof von Sel-burg/Livland), Herzog Heinrich der Löwe (1129-1195), Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122-1190). 47 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444.18 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 2: Verden, Andreaskirche, gravierte Messinggrabplatte des Bischofs Yso von Verden (1205-1231). Dem aktiven Bau-herrn von Kirchen und Befestigungen in Verden kommt eine Schlüsselstellung bei der Gründung und Erbauung von Kloster und Kirche Mariensee zu. Zeichnung aus: Wenner, Kunstdenkmälerinventare Niedersachsens, Hannover 1980. Abb. 3: Marienfeld, Klosterkirche, Grabplatte des Bischofs Hermann II. von Münster (1173–1203). Hermann II. (von Kat-zenelnbogen) hatte als Kanzler Barbarossas europaweite Verbindungen, war Mitbegründer Marienfelds und eifriger Förderer des Baues der Klosterkirche sowie der Verbreitung ihrer Architektur in seinem Bistum. Foto: A. Sassen 2001 Nach heutigem Stand der Forschung Paul Leidingers blieb Bernhard II. zur Lippe zunächst bei Heinrich dem Löwen und folgte ihm ins Exil zu dessen Schwiegervater, dem englischen König Hein-rich II. Plantagenét.48 Bis 1184 wird der Aufenthalt des Lippers auch in dessen französischen Besit-zungen vermutet, wo er in Angers und im Anjou die fortschrittliche Bautechnik an Kirchen und Klös-tern kennen und schätzen lernte, die er dann später – möglicherweise über fachlich geschulte Begleiter in seinem Gefolge – nach Marienfeld vermittelt hat.49 Der lippische Edelherr Bernhard II. hatte aber wie die beiden anderen Adeligen durch seine politische Haltung gegen Friedrich I. sein Herrschaftsgebiet in Westfalen verloren. Durch Fürsprache des Bischofs Hermann II. von Münster (Abb. 3) musste er mit dem Edelherrn Widukind von Rheda und dem sächsischen Grafen Lüdiger von Wöltingerode-Wohldenberg beim Staufer Barbarossa Abbit-te leisten und zur Sühne ab 1185 das besagte Zisterzienserkloster Marienfeld stiften. Bernhard II. zur Lippe, der in seiner Jugend in Hildesheim eine klerikale Ausbildung erfahren hatte, trat mit dem Ein-verständnis seiner Frau 1197 selbst als Mönch in dieses Kloster ein.50 Er war mit 60 Jahren schwer erkrankt und hatte die Landesherrschaft seinem Sohn Hermann übergeben.51 Nach seiner Genesung erfolgte im Jahr 1209/10 der Aufbruch des schon betagten Lippers zu einem Kreuzzug nach Livland, an dem weitere Zisterzienser und neben vielen Adeligen auch der Verdener Bischof Yso von Wölpe teilnahmen. 48 LEIDINGER 1999, S. 9. 49 Eine Vermutung Paul LEIDINGERS, auf die sich die Kunsthistoriker DORN und KEMPKENS stützen und darauf auch die Herkunft der Marienfelder Bauformen zurückführen. 50 BENDER 2008, S. 148. 51 BENDER 2008, S. 146–168. Der Lipper litt vermutlich an Gicht durch falsche Ernährung, die aber wohl durch die gesündere fleischarme Kost im Kloster geheilt werden konnte.19 Hier schließt sich der Kreis der alten Bekanntschaften, sicherlich ein Indiz dafür, dass die Verbindungen weiterhin Bestand hatten.52 Als Bernhard von Wölpe sein Lebenswerk mit der Grün-dung des Klosters Mariensee krönen wollte (oder war es auch bei ihm eine Sühnestiftung?), ist deshalb wohl davon auszugehen, dass er bei seinem Projekt von diesem Bekanntenkreis weitestgehend unter-stützt wurde. In erster Linie werden aber die Bischofe von Minden, von ihnen seit 1209 Bischof Kon-rad, hinter der Verwirklichung des Klosterprojekts Mariensee gestanden haben. Mit wie viel Energie Bernhard II. zur Lippe an der Verbreitung der von Marienfeld ausgehen-den Architektur interessiert war, zeigte sich an der Aktivität seiner Familie. Bernhard II. zur Lippe hatte 11 Kinder, die in der Mehrzahl geistliche Ämter übernahmen. Überall wo sie auftraten, hinterlie-ßen sie Kirchenbauten nach dem charakteristischen Vorbild Marienfelds, erkennbar an der Wölbtech-nik als auch an der Ausbildung kreuzförmiger Pfeiler und einheitlicher Stilelemente. Dieses war ein Phänomen und insofern interessant, da Vergleichbares in der Geschichte mittelalterlicher Sakralbauten selten oder garnicht aufgetreten ist.53 Es wird heute von der Forschung als dynastisches Bauen der Lipper bezeichnet, denn die rege Bautätigkeit der lippischen Familie wurde vermutlich bewusst zur Darstellung ihres Herrschaftsanspruches benutzt.54 Es ist wohl anzunehmen, dass Bernhard II. als Pat-riarch der Lipper Familie dieses Erscheinungsbild mit allen Mitteln unterstützte und deshalb kein Wunder, wenn er auch seinen einstigen Kriegskameraden Bernhard von Wölpe in dieser Richtung beraten und unterstützt hat. Die Verbreitung der Marienfelder Architektur durch die Lipper fasste der Kunsthistoriker Hans Thümmler 1978 zusammen: Es gibt kaum eine zweite Kirche in Westfalen, die sowohl für die mittelalterliche Baugeschich-te als auch für die allgemeine Kirchengeschichte von größerer Bedeutung ist als die einstige Zisterzi-enserkirche von Marienfeld.55 56 Den westfälischen Einfluss nach Norden und Osten bestätigt Lobbedey noch 2000:57 Westfalen, eine Kunstlandschaft provinziellen Charakters, hat seinerseits eine gebende Rolle in der Spätromanik gespielt. Im Falle der Stiftskirche von Barsinghausen und der Zisterzienserkirche von Loccum, beide im nahen Niedersachsen, mag es sich um Ausläufer der westfälischen Bauweise handeln. Im Norden, in Friesland, sind westfälische Gewölbeformen leicht erklärbar, denn das Gebiet um die Emsmündung gehörte seit Liudgers Zeiten zur Diözese Münster. Auch die in den 1230er Jah-ren entstandenen Hallenkirchen in Bremen, Liebfrauen, und im unweit davon gelegenen oldenburgi-schen Berne ebenso wie die westfälisch gestalteten Teile des Bremer Doms gehören noch zum nahen Einflussgebiet. Anders sind die in Lübeck und Schleswig vorkommenden westfälischen Formen zu beurteilen. Es ist das Zeitalter der Ostkolonisation, und westfälische Kaufleute und westfälischer Adel haben an jener Bewegung teilgenommen, die die weiten Räume um die Ostsee erschloss. Sehr eindeu-tig markiert sich westfälische Baukunst der Spätromanik in Visby auf Gotland, aber auch in manchen festlandschwedischen Orten, und unverkennbar hat sie im baltischen Estland und Lettland weiterge-wirkt. Bernhard zur Lippe, Mitgründer von Kloster Marienfeld, Stadtgründer von Lippstadt und eine der markantesten Gestalten in Westfalen jener Zeit, war Abt von Dünamünde und Bischof in Livland, und Namen westfälischer Herkunft begegnen im Ostseegebiet allenthalben. Bemerkenswert ist, dass weder Thümmler noch Lobbedey und alle folgenden Autoren diesem elitären Kreis sakraler Architektur die erste frühgotische Backsteinkirche von Mariensee hinzuzählten. 52 DUENSING 1999. 53 KUBACH/VERBEEK 1978, S. XII: konstatieren nach Abschluss ihres Werkes über die romanische Baukunst am Rhein in einer ganz anderen Weise: In kaum einem Fall sind die geschichtlichen Beziehungen durch Grund-besitz (Fernbesitz der Abteien) Kollationsrecht oder anderes nachweislich für die kunstgeschichtlichen Zusam-menhänge bedeutsam geworden. Ob die Kirche einem Bischof, einem Kloster oder einem Grundherrn innerhalb oder außerhalb des Rhein-Maas-Gebiets gehörte oder unterstand, das hat nicht in erfassbarer Weise auf die Bauformen eingewirkt. 54 DORN 2008. 55 THÜMMLER 1978, S. 4. 56 SIGRIST / STROHMANN 1994. 57 LOBBEDEY 2000, S. 25.20 Zur Organisation des Klosterbaus Unter den beschriebenen Voraussetzungen war es wahrscheinlich, dass Konvent, Stifter und Bischof einvernehmlich einen erfahrenen Mönch des Zisterzienserordens als Instruktor beauftragten, der aber nicht als Baumeister oder Architekt anzusprechen war. Er hatte alle wesentlichen Entschei-dungen im Sinne des Zisterzienserordens zu treffen und deren Ausführungen zu überwachen, beriet den Stifter bei der Wahl des Bauplatzes, brachte Angaben zur Anlage des Klosters wie zur Ausführung der Bauten mit. Wahrscheinlich empfahl er dem Stifter auch einen Operarius aus dem Zisterzienseror-den, der als kaufmännischer Leiter verantwortlich für die Finanzen sowie die Bauaufsicht zeichnete. Zur Ausführung des Bauvorhabens dürfte auch ein Laienbruder des Ordens als Bau- oder Werkmeister vorgeschlagen worden sein. Dem Werkmeister oblag die Leitung auf der Baustelle und nach seinen Plänen wurde der Bau rational organisiert und ausgeführt. Er hatte die speziellen Handwerker anzu-werben, ferner musste er sich um Transport und Bereitstellung des Baumaterials kümmern. Allgemein wurden die Bauern und Handwerker am Ort zu Hand- und Spanndiensten herangezogen. Besonders in der Zeit zwischen Aussaat und Ernte und nach der Ernte mussten sie helfen, auch soweit das Wetter in der kalten Jahreszeit Aktivitäten noch zuließ. Gewinnung und Transport von Sand und Steinen, Holz-schlagen für Bauholz und Kohlenbrand sowie die Beschaffung von Kalksteinen über zumeist weite Wegstrecken waren ihre Aufgaben. Alles zeitraubende Betätigungen, die aber für den Fortlauf der Bauarbeiten bestimmend waren; denn zumeist lag das Tempo der Bauausführung an der Beschaffung und Bereitstellung des Baumaterials. Im Zuge der zum Ende des 12. Jahrhunderts verstärkt aufgenommenen Kirchenbautätigkeit hatten sich Werkgemeinschaften herausgebildet, die über einen hohen Grad an Fachkenntnissen im Bauwesen verfügten. Sowohl gelernte Handwerker als auch Hilfskräfte bildeten eine Werkgemein-schaft, in der es die primäre Aufgabe des Baumeisters war, die gedachte Vorstellung des Kirchenbaus Gestalt werden zu lassen. Diese Vorstellung existierte vermutlich weitestgehend nur in seinem Kopf, schlug sich aber kaum in Form maßstäblich gezeichneter Grund- und Aufrisszeichnungen nieder. Zu-meist entstanden nur Ritzzeichnungen von Details auf geglätteten feuchten Lehmtafeln zur Informati-on des Bauherrn oder der Mitarbeiter zur genaueren Anweisung einer auszuführenden Arbeit. Den Beruf des Architekten hat es in der romanischen Baukunst nicht gegeben. Man spricht vom Bau- oder Werkmeister, einer gebildeten, gut bezahlten und in der Bürgerschaft sozial hoch ste-henden Persönlichkeit. Ihm stand aus dem Zisterzienserorden der bestens ausgebildete Laienmönch gegenüber, der mit seinen architektonischen Fachkenntnissen ebenfalls eine Bauleitung übernehmen konnte. In den Klöstern wurde Bildung und Ausbildung geeigneter und talentierter Mönche und Kon-versen sehr wichtig genommen, um für die Leitung aller Projekte möglichst auf eigene und damit kos-tengünstige Kräfte zurückgreifen zu können. Entstammte ursprünglich der Werkmeister aus der Handwerkergruppe der Maurer, so verlangte bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts der größere Kirchenbau mit vermehrter Anwendung von Pfeilern, Säulen, Kapitellen und Bögen aus Werkstein sowie der Bau von Gewölben Kenntnisse in präziser Messtechnik, die eher innerhalb der Gruppe der Steinmetze gelernt und weitergegeben wurden. Der in Mariensee tätige Ordensbaumeister kam also wahrscheinlich aus dieser Berufsgruppe und dürfte mit allen erforderlichen Kenntnissen des Bau-handwerks vertraut gewesen sein. Obwohl die Forschung in der Vergangenheit davon ausgegangen war, dass so gut wie alle am Bau anfallenden handwerklichen Arbeiten von ordenseigenen Bauleuten ausgeführt wurden, zeigen Schriftquellen oder aussagekräftige Bauformen, dass vielfach unter Zister-zienserleitung lokale, nichtklösterliche Bauleute am Werk waren. Dies bestätigt sich in Mariensee, indem die Architektur zwar durch einen Werkmeister des Zisterzienserordens über Marienfeld vermit-telt wurde, an der Ausführung des Kirchenbaus in seiner fortgeschrittenen Ziegelsteinbauweise jedoch norddeutsche Ziegelbauer maßgeblichen Anteil hatten. Eine mit Mariensee vergleichbare Ziegelkunst war derzeit im westfälischen Marienfeld unbekannt und demnach dort noch nicht vom Zisterzienser-orden getragen.21 Die Einflüsse aus dem westfälischen Marienfeld Um 1200 machte das Zisterzienser-Männerkloster Marienfeld im Bistum Münster in Westfa-len mit einer neuen Technik des Kirchenbaus Schule. Die Abteikirche von Marienfeld war schon bald nach der Gründung des Klosters 1185 im Übergang von der romanischen zur gotischen Stilepoche begonnen worden. Bei ihrem Bau wurde die Ausbildung kreuzförmiger Pfeiler, eine konsequente Verwendung von Spitzbögen an den Schild- und Gurtbögen, besonders aber Gewölbe in hochkuppeli-ger Form, sogenannte Domikalgewölbe ausgeführt. Nach bisherigem Stand der Forschung kam das Wissen über diese Bautechnik aus Westfrank-reich. Man führt es auf den angevinischen Stil zurück, der im Herrschaftsbereich Heinrichs II. Planta-genét und seiner Gemahlin Eleonore von Aquitanien seit ca. 1150 nachweisbar ist.58 Seine Übertra-gung auf Westfalen und wohl zuerst auf Marienfeld, geht nach einer These Paul Leidingers auf Ver-bindungen Bernhards II. zur Lippe zurück, der sich zwischen 1181 und 1184 als Gefolgsmann des entmachteten Heinrichs des Löwen im französischen Angers am Hof Heinrichs III. Plantagenét auf-hielt.59 Der durch klerikale Schulung hochgebildete Bernhard lernte dort gotische Kirchen- und Hospi-talbauten mit völlig neuartiger Gewölbearchitektur kennen. Unter diesen Eindrücken boten in seiner Heimat die nach 1185 beginnenden Bautätigkeiten am Kloster Marienfeld und den Kirchen seiner Stadtgründungen Lippstadt und Lemgo ein reiches Feld, gewonnene Erkenntnisse umzusetzen. Gleichzeitig konnte der Lipper Edelherr aber auch auf das Wissen der Mönche des Zisterzienserordens zurückgreifen. Die praktische Ausführung der fortschrittlichen französischen Baukunst lag in den Händen jener Laienmönche, die ihre Kenntnisse über die regelmäßige Verbindung innerhalb des Zis-terzienserordens erworben hatten. Der Kulturexport lag vornehmlich bei den Orden französischer Herkunft, insbesondere der Zisterzienser. Diese hatten schon bald nach der Ordensgründung ein eigenständiges Architektursystem entwickelt, das durch vielerlei Vorschriften geregelt war. Durch die ständigen Visitationen der Klöster, die regelmäßig stattfindenden Generalkapitel und die engen Beziehungen zwischen Mutter- und Toch-terklöstern war die Basis für einen ständigen Austausch gegeben. Wenn die Zisterzienser in ihrem burgundischem Stammgebiet noch im 12. Jahrhundert gotische Gestaltungs- und Konstruktionsprinzi-pien übernehmen, überrascht es nicht, wenn wir diese bald allenthalben in Europa wiederfinden – von Portugal bis Polen und von Süditalien bis Schweden und England.60 Auch die Entstehung der Zisterzienserabteikirche Heisterbach (Abb. 9, 10.) zwischen 1202 und 1237 mit steil ansteigenden Gewölben und einen auf französische Vorbilder (Térouanne und Dommartin) zurückgehenden Chor weisen auf einen intensiven Wissensaustausch innerhalb des Or-dens.61i Die gotische Architektur wurde von den Zisterziensern auch wegen ihrer höheren technischen Perfektion importiert und dort, wo kein geeigneter Naturstein anlag, in Ziegelbauweise übertragen; eine Technik, in der sich der Orden schon im frühen 13. Jahrhundert als Schrittmacher erwies. Alle in Betracht kommenden Beispiele sind aber nicht deckungsgleich, überall gingen die Baumeister eigene Wege in der Ausführung. Man orientierte sich eher an der Vielfalt der Lösungen und Lösungsmög-lichkeiten, als an einem zum Muster erhobenen Bau. In diesem Sinne haben auch andere französische Kongregationen gewirkt, doch ist ihre Rolle schwierig zu bestimmen. Zu nennen wären die Viktoriner, die Prämonstratenser des Norbert von Xan-ten, die Kartäuser und die im 13. Jahrhundert stark durch Frankreich geprägten Bettelorden der Domi-nikaner und Franziskaner. Die Vermittlung davon beeinflusster linksrheinischer Bauhütten weit ins rechtsrheinische Gebiet hinein zeigt das Auftreten der typischen hochkuppeligen Gewölbeform in der Stiftskirche Fritzlar, die um 1200 von einer oberrheinischen (Worms-Mainzer) Bauhütte wiederaufge-baut wurde.62 58 SCHREINER 1967, S. 1–21; LEIDINGER 1985, S. 181-238; DORN 2006, S. 187–201. KEMKENS 2008, S. 11, 104–124. 59 LEIDINGER 1985. 60 KIMPEL/SUCKALE/HIRMER 1995, S. 468. 61 KUBACH/VERBEEK 1978. 62 BACKES/FELDTKELLER 1962, S. 283. Der heutige Dom geht auf die Zeit nach der Zerstörung Fritzlars 1232 zurück, nach neueren Forschungen aber schon früher, da nach 1171 die Kirche in schlechtem Zustand war. 22 Abb. 4: Köln, St. Gereon. Der Schnitt des innen 35 m hohen Zentralbaus verdeutlicht die Eiform seiner Kuppel. Auch in Köln wurde um 1220 in Frankreich vorgebildete Architektur angewandt. Zeichnung nach Kubach / Verbeek Wahrscheinlich war der Werkmeister von St. Gereon, der den Zentralbau von 1219–1227 er-neuerte, von den großen Bauten der Ile-de-France inspiriert. (Abb. 4) Obwohl ein romanischer Bau mit weiterführenden Einflüssen von Heisterbach und den Kölner Kleeblattchören, nähert er sich von allen frühen Kölner Kirchen am weitesten dem französischen Gerüstprinzip mit seinem Strebesystem. 63 Kaum ein anderer Bau zeigt bei einem Schnitt ein derart vollendetes Kuppelgewölbe. Auch für Marienfeld in Westfalen waren die sogenannten angevinischen Gewölbe wohl nur Anregung zu einer neuen Form. Der bereits hoch entwickelte französische Gewölbebau mit präziser Rippentechnik und steinsichtiger Ausmauerung der Gewölbekappen (Abb. 11) mit regelmäßigem Fu-genbild konnte nicht übernommen werden. Allem Anschein nach etablierte sich aber eine Parallelent-wicklung, die zunächst die äußere Form aus Frankreich nachbildete und später zum Kreuzrippenge-wölbe führte.64 Über den damaligen technischen Stand der Marienfelder Bauleute informiert die Draufsicht auf die Gewölbekuppen unter dem Dach der Klosterkirche. Sie nehmen die Form des Hüh-nereis auf und nutzen die Erfahrung, dass seine Stabilität nicht zu übertreffen ist. Die Klosterbauleute erfanden das Prinzip ihrer Gewölbe über die natürliche Idealform wohl neu; denn vielerorts entwickel-ten sie auf dieser Grundlage weitere eigenständige Konstruktionen. Der Rückgriff auf die elliptische Naturform ist bis heute aktuell und erfuhr zuletzt nach Plänen des Katalanen Antonio Gaudi in der Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona eine Weiterentwicklung. 63 GÜNTER 1979, S. 30, 31. DEHIO/EHMKE 1976, S. 338, 339. 64 Freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Jens Reiche, Hannover.23 Abb. 5: Paderborn, Bartholomäuskirche am Dom. Die aus der Zeit Bischof Meinwerks um 1017 stammende Kirche ist mit ihren Hängekuppeln ein architektonisches Frühwerk in Westfalen. Foto: A. Sassen 1971 Da die Marienfelder Domikalgewölbe in der technischen Ausführung einen anderen Weg ge-hen als die hochkuppeligen Gewölbe in Angers, verweisen die Verfasser auf die dementsprechende Vorform der sogenannten Hängekuppel. Ihre Form ergibt sich aus einer halbierten Kugel, die an vier Seiten so beschnitten ist, dass als Grundfläche ein Quadrat entsteht. Die Hängekuppel trat im Rhein-land erstmalig an dem nach 1130 errichteten Chor und Querhaus der Klosterkirche Knechtsteden auf, von wo aus das Motiv dieser Gewölbeart im niederrheinischen Raum Verbreitung fand.65 Sowohl das Gliederungssystem des Knechtstedener Ostbaus als auch seine kuppelige Einwölbung gehen wahr-scheinlich auf die Vermittlung des aus Prémontré bestellten ersten Stiftspropsts Heribert zurück. Die in Ringschichten gemauerten Hängekuppeln finden sich in gleicher Mauerung und entsprechender Massierung gleichzeitig in den Kirchen Aquitaniens. Auch die Klosterkirche von Fontevraud, im Grenzbereich zu Anjou, Touraine und Poitou gelegen, hat Kuppelgewölbe in besonders entwickelter Form. Eine vergleichbare Gewölbeform zeigt die frühzeitig 1208 vollendete Backsteinkirche der Be-nediktinerinnen in Arendsee auf. Hier sind es kuppelig abgeschlossene Kreuzgratgewölbe aus leicht gebrannten Ziegeln, die im Oberbereich ringförmig aufgemauert wurden.66 Bemerkenswert weist die am Paderborner Dom stehende Bartholomäuskirche aus der Zeit des Bischofs Meinwerk (Abb. 5) bereits um 1017 eine vollständige Einwölbung aus Hängekuppeln auf. Sie sind die frühesten Gewölbe nördlich der Alpen, die mehrteilig einen Gesamtraum überdecken. Zur Auffassung, sie seien als operaios graecos das Werk byzantinischer oder griechischer Bauleute,67 vermutet man auch, dass sie auf das Können istrischer Bauleute zurückgehen.68 Möglicherweise ist das frühe Auftreten in Paderborn und die Anwendung dieser Gewölbeart in Aquitanien auf das Vor-bild der Einwölbungen der großen Zisternen in Byzanz zurückzuführen. 65 DEHIO/SCHMITZ-EHMKE 1976, S. 594 66 KRAUSE 1993, S. 390. 67 GÜNTER 1997, S. 163. 68 KNAUR 1993, S. 934. Zum Vergleich auch die Kuppelkirche Sta. Fosca in Torcello/Venetien über griechi-schem Kreuz vom Ende des 11. Jh.24 Abb. 6: Solingen-Wald, romanische Basilika des 12. Jhs. Blick in das Bausystem. Die Gesteinvorkommen am Ort ermöglichten einen Bau mit schweren Kreuzgratgewölben aus Bruchstein. Rekonstruktionszeichnung: Andreas Sassen 2007.25 Abb. 7: Mariensee, Klosterkirche der Zisterzienserinnen. Blick in das Bausystem. Frühgotische Saalkirche des 13. Jhs. aus Backstein mit leichter hochkuppeliger Wölbung. Zeichnung: Andreas Sassen 2002.26 In konstruktiver Beschränkung ergibt die Form der allseits runden Hängekuppel einen Aufbau nur mit seitlichen Rundbögen (Abb. 5). Lässt man die Kuppel jedoch steil zur Ellipsenform ansteigen, so ermöglicht diese an den Seiten den Einbau von Spitzbögen (Abb. 4 u.7). Erfahrungen zu bautechni-schen und architektonischen Veränderungen, Neuerungen oder Übernahmen ergaben sich von jeher aus Sehen, Kombinieren und Experimentieren. Es ist also durchaus möglich, dass man zur Realisie-rung des gotischen Bogens die ringförmig aufgemauerte Kuppel steil ansteigen ließ und sich daraus jene hochkuppeligen Domikalgewölbe ergaben, die dann in Marienfeld und anderen Orten wie auch Mariensee zur Anwendung kamen. Aufgrund der allseits abgerundeten Form der Kuppel war bei ihrem Bau kein Form- oder Lehrgerüst anwendbar, – man musste also frei aufmauern. Diese Bauweise ließ sich bei saugfähigen Ziegeln oder Bimssteinen mit normalem Kalkmörtel relativ einfach bewerkstelligen. Schwieriger war die Verwendung von Bruchsteinen, die am offenen Bauplatz zumeist erdfeucht zur Verfügung stan-den. Aufgrund ihrer Dichte nahmen sie kaum Wasser aus dem Mörtel auf, so dass der Aufbau über Kopf nur schwer stehen blieb, eher ständig auseinanderzufallen drohte. Wahrscheinlich wurde in sol-chen Fällen seit alter Zeit mit sogenanntem Heißem Kalk gemauert. Dabei wurde dem Mörtelgemenge aus Sumpfkalk und Sand am Bauort ein bestimmter Teil an Branntkalk beigemengt, der die Tempera-tur des Mörtels ansteigen und ihn wie schnellbindender Gips verwenden ließ.69 Zur Entwicklung des Gewölbebaus Die Verbreitung feuerfester, steinerner Kirchendecken ging um 1100 von Worms und Speyer über Mainz und Köln zum Niederrhein. In Köln entstand die Emporenbasilika St. Mauritius (1144 geweiht, nach 1803 abgebrochen) als eine der frühesten, in Haupt- und Seitenschiffen ganz gewölbten Kirchen der Stadt. Währenddessen fand vereinzelt auch rechts des Rheins in Westfalen der Gewölbe-bau schon Anwendung. Nachdem um 1140/50 die Stiftskirchen Lippoldsberg an der Weser und Cap-pel bei Lippstadt mit eingewölbtem Chor und Schiff entstanden, wurde fast jeder Sakralbau im westfä-lisch-niedersächsischen Raum nach diesem Muster gebaut.70 Das dabei angewandte Kreuzgratgewölbe aus zwei sich durchdringenden Halbtonnen verlangte eine quadratische Grundform, ein aufwändig gebautes hölzernes Formgerüst und sehr viel Baumaterial (Abb. 6). Aufgrund von Form und Gewicht bei einer Schalenstärke von bis zu 50 cm sackte es leicht im Scheitelpunkt ein und übte einen hohen Seitendruck auf die tragenden Umfassungsmauern aus. Eine romanische Kirche musste deshalb in der Regel mit massivem Mauerwerk als Ganzes zwischen Turm und Apsis hochgezogen werden. Erst dann wurde sie durch Überdachung wetterfest gemacht und schließlich eingewölbt. Gegenüber dem romanischen Kreuzgratgewölbe kam die Einführung des stark steigenden Domikalgewölbes um 1200 einer bautechnischen Revolution gleich. Die selbsttragende, spannungs-freie Kuppelschale konnte ohne Lehr- oder Stützgerüst frei aufgemauert werden. In Marienfeld und einer Reihe von Folgebauten – darunter auch Mariensee (Abb. 7) – geschah dies ringförmig unter Verwendung weich gebrannter, bis 31 cm langer Ziegelsteine.71 Diese lagen aufgrund ihrer Saugfä-higkeit sofort fest im Mörtelbett und ermöglichten einen raschen Aufbau bis zur Schließung der Kup-pel.72 Die Dimensionen der Marienfelder – und Marienseer – Gewölbe von 13 Metern Durchmesser (Diagonale des Quadrats von 9 Metern) zu einer Schalenstärke von nur 15 cm sind dem Verhältnis des 200fachen einer Eierschale von 45 mm zu 0,4 mm sehr nahe. Hier zeigte die Praxis, dass sich die Na-turform auch überdimensional verwirklichen ließ. Eine glatte Gewölbekuppel ließ sich mithilfe eines Mittelbaumes und Maßschnüren völlig frei aufbauen.73 69 Freundliche Auskunft von Herrn Ortwin Schwengelbeck, auf dessen Anregung an der Ingenieurschule Holz-minden 2015 entsprechende Versuche dieser vergessenen Baupraktik durchgeführt wurden. 70 HANSMANN 1966, S. 196. Die Stiftskirche von Cappel ist eine der ersten vollständig gewölbten Kirchen Westfalens, ebenfalls die von Mainz gebaute Kirche Lippoldsberg an der Weser. Nach LOBBEDEYs Ausgra-bungen in Paderborn, war auch der Vorgänger des heutigen Doms schon eingewölbt. 71 Ein unmittelbarer Folgebau Marienfelds war der Chor der inkorporierten nahen Kirche zu Isselhorst, bei der die gleichen Ziegel verwendet wurden. SASSEN 2000. 72 Der ringförmige Aufbau der Gewölbe ist besonders in der Bremer Marienkirche (Abb. 12) zu sehen. 73 Von der Ems bis Stralsund stehen Dorfkirchen mit tief ansetzenden, frei gemauerten Kuppelgewölben,27 Abb. 8, 8a: Kobern/Mosel, Matthiaskapelle. Um 1230 nach Motiven der Grabeskirche in Jerusalem errichtet. Die nur im Mittelbau vorhandenen gotischen Bogen werden von 30 Säulen, zu 6 Gruppen getragen. Schönstes Beispiel einer Kapelle der rheinischen Spätromanik. Aufnahme: Andreas Sassen 2012. Abb. 9: Heisterbach, Siebengebirge, Zisterzienserklosterkirche, erbaut 1202–1237, nach 1805 bis auf die Apsis abgebrochen. Der Längsschnitt der Kirche mit wichtigen Entwicklungsformen: Einbindung der Apsis in die Dimension des Mittelschiffs, Verwendung spitzer Gurtbogen in Mittelschiff und Querschiffen, runde Schildbögen und darüber hochkuppelige Gewölbe. Zeichnung von 1810 für Sulpiz Boissereé, aus Kubach/Verbeek. wahrscheinlich von westfälischen Siedlern übertragen. In Uexküll/Lettland findet sich stromaufwärts von Riga die älteste Kirche des Baltikums, um 1220 mit einem Domikalgewölbe im Chor und einer lippischen Rose an der Säule des Chorbogens. (1916 zerstört, heute halb überflutet). 28 Abb. 10: Heisterbach, Zisterzienserkirche. Blick nach Osten ins Kirchenschiff. Die Rekonstruktionszeichnung von Pützer 1894 zeigt die nach 1200 beginnende Gotik im Rheinland. Das aufgehende Mauerwerk erinnert noch an das romanische Knechtsteden, doch über den gotischen Gurtbögen ein hochkuppeliger Gewölbebau. Im Osten die Rundapsis mit Fächergewölbe. Abb. aus Kubach/Verbeek S. 375. In der Fortentwicklung der ringförmig gebauten Gewölbekuppeln legte man zur Gliederung und Maß-einhaltung diagonale oder achtteilige Rippen auf einem Lehrgerüst vor und mauerte darüber ringför-mig die Gewölbeschale. In Marienfeld ist zu sehen, dass man schon bald darauf die Rippen zur Stabi-lisierung direkt in die Schale einband. Als man damit begann, die Zwischenräume einzeln als gewölbte oder gebuste Kappen auszuführen, steigerte sich die Stabilität, wodurch man die Höhe der Gewölbe senken und dabei Material sowie Gewicht einsparen konnte. Der Auflagedruck der äußerst steil stei-genden Bauform verläuft mit nur geringen Seitenkräften fast senkrecht nach unten und wird über die Spitzbogen zu den Eckpunkten im Mauerwerk abgeleitet. Da die frühe Baukunst nur über Erfahrungen zu ihren Ergebnissen kam, versuchte man anfangs ohne oder mit nur gering dimensionierten Stützpfei-lern auszukommen.74 Damit wurden im Übergang von der Romanik die Grundvoraussetzungen zur Gotik eingeleitet. Erstmals konnte nun ein Kirchenbau in stabilen senkrechten Abschnitten, Joch für Joch gebaut werden. 74 Erst im 19. Jh. konnte man den statischen Druck der Gewölbe berechnen und verstärkte daraufhin bei vielen Kirchenrestaurierungen die Stützpfeiler oder legte sie neu an. BREYMANN/WARTH 1903, S. 294.29 Entwicklung frühgotischer Architektur am Rhein und in Westfalen Innerhalb der ersten zwanzig Jahre nach 1185, dem Gründungszeitpunkt des münsterländi-schen Klosters Marienfeld, entstanden an einigen Orten für Westfalen bedeutende Kirchenbauten. Etwa zeitgleich baute man in Lippstadt (Marienkirche, Stiftskirche und Nikolaikirche) und Lemgo (Nikolaikirche), Münster (Domwestchor), Minden (Ostchor mit Vierung), etwas später Geseke (Stifts-kirche), Obermarsberg (Klosterkirche), Billerbeck (St. Johannes), Herford (Münsterstiftskirche), Bre-men (Dom, Marienkirche), Berne (St. Ägidius), Loccum (Klosterkirche) und weit entfernt in Visby auf Gotland (St. Marien) und in Riga (Dom). Noch vor 1200 begann vermutlich auch der Burgenbau von Rheda mit seiner aufwendigen Turmkapelle.75 Nach Angaben des Dehio und gleichlautend bei Kubach und Verbeek wurden die meisten dieser Kirchen um 1200 oder nach 1220 begonnen – etwa gleichzeitig mit einem Bauboom im Rheinland. Das Rheinland wird gern allgemein als vorbildhaft in der Entwicklung der Architektur bis hin zur Gotik dargestellt, deren Einfluss über Westfalen hinaus bis in die angrenzenden östlichen Provin-zen reichte. Dagegen schöpften wiederum die rheinischen Kirchenbauer in ihrer Kreativität aus weit-reichenden französischen Quellen. Weitab vom Rhein und noch in etlicher Entfernung von der zweiten Kulturbarriere Weser befindet sich nun die Klosterkirche Mariensee. Im Hinblick auf ihre Bauge-schichte stellt sich die die Frage, wie an dieser Stelle schon bald zu Beginn des 13. Jahrhunderts an-scheinend unvermittelt diese frühgotische Kirche entstehen konnte. Ist zu dieser Zeit bereits die Archi-tektur rheinischer Kirchen als Vorbild für Mariensee heranzuziehen? Zur Einschätzung der Gotik im Rheinland schreibt Jürgen Kaiser: Das Rhein-Maasgebiet mit Köln als Zentrum erlebte in der Zeit zwischen 1150 und 1250 einen immensen Bauboom. Fast alle größeren Kirchen der Region wurden damals in erheblich aufwendige-ren Formen neu errichtet. Die Baumotive, die die rheinische Romanik bestimmten, kamen aus der Normandie und dem Anjou: die stark durchgliederte doppelschalig angelegte Wand mit Laufgängen, Emporen, Triforium, Dreibogenstaffel und Rippengewölbe mit und ohne Hängeschlussstein. Unmittelbar nach der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert tauchen im Formenrepertoire des spätro-manischen Kirchenbaus im Rheinland Einzelformen auf, die eindeutig der gotischen Architektur Nord-frankreichs entlehnt sind. Diese verdrängen zunächst nicht die lokale Bautradition, sondern werden immerhin ein halbes Jahrhundert lang in den spätromanischen Massenbau bereichernd integriert. Die Zisterzienserkirche Heisterbach (Abb. 9, 10) das Bonner Münsterlanghaus, das Dekagon der Kölner Stiftskirche St. Gereon (Abb. 4), die Andernacher Pfarrkirche, die Stiftskirche in Limburg an der Lahn und die Matthiaskapelle in Kobern (Abb. 7) sind die herausragenden Vertreter dieses facettenreichen und eigenständigen „Übergangsstils“. 76 Ein Vergleich des 1202 begonnenen Chors der Zisterzienserabteikirche Heisterbach im Sie-bengebirge mit demjenigen ihrer Tochtergründung Marienstatt im Westerwald zeigt unverkennbar, dass nur zwei Jahrzehnte später bereits eine viel deutlichere Übernahme gotischer Formen möglich war. Der 1222 begonnene Chor der Mariensstatter Zisterzienserabteikirche dürfte der erste rein goti-sche Sakralbau im Rheinland gewesen sein, sicherlich nicht unwesentlich bedingt durch die französi-sche Herkunft des Ordens. Erst mit der Trierer Liebfrauenkirche (Baubeginn um 1235), der Kölner Minoritenkirche (um 1245) und dem Kölner Dom (1248) entstehen hochgotische Kirchenbauten, die ein französisches Ge-samtsystem übernehmen und mit der spätromanischen Bautradition des Rheinlandes völlig brechen.77 Nach derzeitigem Forschungsstand ist in Westfalen mit der Klosterkirche Marienfeld in West-falen (Abb. 13, 15) eine zum Rheinland parallele Entwicklung vor sich gegangen, der für die Region und weit darüber hinaus eine Vorbildfunktion zukommt.78 Es ist nicht zu übersehen, dass bestimmte Formen zu dieser Zeit aus dem Rheinland übernommen wurden. Lobbedey konstatiert in Romanik in Westfalen sowohl in seinem Einleitungstext als auch in der Beschreibung der Klosterkirche Marien-feld: 75 KEMPKENS 2008, S. 115–118. 76 KAISER 2011, Der Spitzbogen macht noch keine Gotik – die rheinische Spätromanik, S. 11. 77 KAISER 2011, Beginn und Weiterentwicklung der Gotik im Rheinland, S. 13. 78 LOBBEDEY 2000, S. 139.30 Abb. 11: Angers, St Trinité um 1165 Abb. 12: Bremen, Liebfrauen um 1230. Der Blick in die Gewölbe beider Kirchen zeigt, dass die Anregungen zur Form der Gewölbe aus Frankreich kamen, ihr Auf-bau jedoch nach anderem Prinzip erfolgte. Ähnlich wie in Bremen sind auch die Marienfelder und Marienseer Domikalge-wölbe ringförmig aufgebaut. Aufnahmen aus: Dorn, St. Maria und Pusinna in Herford. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass vor allem die Domikalgewölbe und das Vorlagen-system der Pfeiler – sehr charakteristische Elemente der westfälischen Spätromanik – in Marienfeld zum erstenmal auftreten, und mit ihnen eine besondere Raumform. Dass die Gewölbe Vorbildern aus Südwestfrankreich folgen, halten wir für gewiss, wenn auch die technische Ausführung anderen Tradi-tionen folgt. Die übrigen Quellen des Baus sind nicht so eindeutig auszumachen. Aus westlichen, d. h. rheinischen und darüber hinaus französischen Quellen ist die Kapitellplastik zu erklären.79 An anderer Stelle erklärt Lobbedey weiter: Auch die hochkuppeligen Gewölbe treten hier auf, vor allem aber das Verhältnis der Stützen-höhe zur Gewölbehöhe von den Kapitellen bis zum Schlussstein, die beide etwa das gleiche Maß errei-chen. Solche Gewölbe, aber auch verwandte Raumformen gibt es im Poitou und Anjou, dem Gebiet des nach seinem Herrscherhaus benannten Style Plantagenệt. Dort lässt sich eine Abfolge feststellen von den einschiffigen aquitanischen Kuppelkirchen des 12. Jahrhunderts mit echten Kuppeln und den weiten, ebenfalls zum Teil einschiffigen Bauten mit rippenbesetzten, spitzkuppeligen Domikalgewölben wie etwa der Kathedrale von Angers. Zahlreiche Übereinstimmungen auch in kleinen Details bei den spätromanischen Bauten des 13. Jahrhunderts belegen, dass westfälische Meister in der Tat südwest-französische Bauten kannten. Die seit der Translation des hl. Liborius aus Le Mans nach Paderborn 836 lebendig gebliebene, auch im 13. Jahrhundert nachweisbare Verbindung zwischen den beidersei-tigen Domkapiteln ist dafür keine Erklärung, wohl aber untermauert sie die Beziehung.80 Allgemein weisen die Schwesterbauten Marienfelds gewisse Ähnlichkeiten miteinander auf, sie vergrößern den Raum, entwickeln die Pfeilertechnik weiter und verfeinern die Kapitellplastik so-wie die Gewölbedekoration. 79 LOBBEDEY 2000, S. 139. 80 LOBBEDEY 2000, S. 20.31 Abb. 13: Marienfeld in Westfalen, Zisterzienser-Abteikirche, begonnen nach 1185. Blick aus dem Langhaus in den Chor. In Marienfeld treten erstmals für Westfalen die hochkuppeligen, zeltartigen Gewölbe auf, die Vorbild für viele Sakralbauten des 13. Jahrhunderts wurden. Foto: Andreas Sassen 2015. 32 Abb. 14: Mariensee, Zisterzienserinnen-Klosterkirche. Blick in den nach 1207 begonnenen Chor. In Mariensee wurde erstmals rheinisch-westfälische und in Frankreich vorgebildete frühgotische Architektur in einer von Osten her entwickelten Backsteintechnik umgesetzt. Aufnahme von 1994, Archiv Kloster Mariensee.33 Abb. 15: Marienfeld, Klosterkirche. Blick in die kuppeligen Gewölbe der Vierung und des südlichen Querschiffs. Die architektonischen Gliederungen sind aus dem gelben Sandstein des Teutoburger Waldes, Mauern und Gewölbe aus Ziegelstein gebaut. Im Hintergrund eine der Dreifenstergruppen (wie Abb. 31a) des vermutlich erst nach 1215 entstandenen Querschiffs. Foto: Andreas Sassen 201534 Darüber hinaus wurden beim Neubau des Ostchors in Minden ausgeprägte Formen der damals hoch-entwickelten rheinischen Spätromanik übernommen.81 Im Prinzip verbleiben aber alle Baukörper in der Übergangszeit, die der romanischen Stilepoche zugeordnet wird. Dagegen treffen wir im Kloster Mariensee (Abb. 14) frühzeitig auf einen Kirchenbau, der sich nicht mehr in die bezeichnete Reihe der bis dahin entstandenen spätromanischen Sakralbauten einord-nen lässt. Man hat den Eindruck, dass hier um 1207 ein gebildeter Werkmeister die Möglichkeit be-kam, sein Können an einem Bau mitten in der Provinz, weitab vom Rhein und dem geschäftig führen-den Westen unter Beweis zu stellen. Da zu dieser Zeit besonders im ländlichen Bereich das Wissen auf die Klöster oder klerikale Kreise beschränkt blieb, ist zu vermuten, dass der in Mariensee tätige Werkmeister ein Angehöriger des Zisterzienserordens war. Vermutlich war es einer der weitgereisten jüngeren Mönche der zweiten Generation aus Marienfeld, der Vorstellungen aus seinen in Frankreich und am Rhein erworbenen Eindrücken und Kenntnissen in Mariensee umsetzen konnte. Im heimatlichen Marienfeld war ihm der Ziegelbau bereits geläufig, so dass er im sächsischen Mariensee, einer Region mit weit vorangeschrit-tener Ziegeltechnik, die besten Voraussetzungen für ein modernes Bauprojekt erwarten konnte. Ohne sich eng an die Architektur der bisher im Entstehen begriffenen Sakralbauten anzulehnen, realisierte der Werkmeister in Mariensee eine Kirche mit einer Reihe von extrem auffälligen und zudem in der Herkunft völlig disparaten formalen Kennzeichen. Die europaweiten Verbindungen des Ordens und das regelmäßig in Cîteaux zusammentretende Generalkapitel machten die Vermittlung neuen Wissens zwar für alle Abteien möglich, doch darüber hinaus schickte das Kloster Marienfeld seine Novizen zu einer umfassenden Ausbildung nach Paris. Der Orden bot damit seinem Nachwuchs eine elitäre Ausbildung, die allgemein den freiweltlichen Jugendlichen verschlossen blieb. Der Weg zu ihrem Schulungsort, der die jungen Männer zu Fuß über Köln, Brauweiler, Aachen und weiter von Kloster zu Kloster führte, war eine tiefgehende Studienfahrt zu vielen kirchlichen und mönchischen Zentren. Viele der Klöster und Stifte waren gerade vom da-mals herrschenden Bauboom erfasst und boten Anschauung und Anregung in der Entwicklung fort-schrittlicher Architektur. Besonders auf ihrem Weg durch das Gebiet nordöstlich der französischen Metropole konnten sich die wissbegierigen jungen Männer ein Bild von neuester Kirchenbaukunst machen.82 In der Landschaft zwischen Oise und Marne hatten französische Baumeister, durch das Vorkommen eines gut zu bearbeitenden Kalksteins begünstigt, an unzähligen Orten kleinere Kirchen-bauten errichtet. Diese Kirchen waren zwar nicht mehr hochkuppelig eingewölbt, doch die Bauleute verwirklichten dort erstmals den Spitzbogen in allen Variationen und erprobten in vielfältiger Weise den gotischen Gewölbebau auf Rippen, bevor diese Technik mit vielen wichtigen Erkenntnissen an den großen Kathedralbauten angewandt wurde.83 Bezeichnenderweise machen sich auch an der Klosterkirche von Mariensee ganz typische Merkmale dieser zunächst auf Frankreich beschränkten Bauentwicklung bemerkbar. Die architektoni-sche Besonderheit der hohen, überschlanken Fenster fällt dabei ins Auge. Darüber hinaus leitete der Baumeister beim Abschnüren des Grundrisses der Kirche die Anwendung regelmäßiger Maße und Zahlen ein, die wohl als leicht merkbare Vorgaben für die Bauleute gedient haben. Viele Maße und Zahlen erinnern jedoch an Erwähnungen in bestimmten Kapiteln des Alten und Neuen Testaments. Möglicherweise beabsichtigte er sogar ein Programm christlicher Symbolik, das ebenfalls von Frank-reich her vermittelt worden war.84 81 Der später gotisch umgebaute Ostchor in Minden weist deutliche Übereinstimmungen mit dem Südquerschiff im Bonner Münster auf. 82 LEIDINGER 1999, S. 17. 83 MÄKELT 1906. Das Buch des Autors gilt zwar als überholt, bietet aber Anschauung durch hervorragende Zeichnungen von damals noch vorhandenen Kirchenbauten. 84 MEUß 1998, S. 97–107.35 Die architektonische Nähe der Marienseer Kirche zu Marienfeld Die in der Region eher ungewöhnliche Form der in der Klosterkirche vorhandenen Gewölbe, vermittelten schon früh den Eindruck, in Mariensee sei ein von Westfalen her geschulter Baumeister tätig gewesen. Hamann und Graefe weisen darauf hin, dass in der Raumgestaltung und in der Gewöl-beform westfälische Einflüsse zu spüren sind85 und beziehen sich auf Clasen/Kiesow, deren Erkennt-nisse nach 1957 veröffentlicht wurden.86 Die Forschung über diese speziellen westfälischen Baufor-men und ihre Verbreitung wurde damals durch Hans Thümmler von Münster aus betrieben.87 In der hannoverschen Region wurde dabei von ihm aber nur die Kirche von Barsinghausen dafür vermerkt,88 die Klosterkirche von Mariensee dagegen nicht registriert und auch die folgende Generation der Kunsthistoriker wurde nicht auf diese Gegebenheiten aufmerksam. Der hochkuppelige Gewölbebau (Abb. 15) mit großer Spannweite wurde zu einem Marken-zeichen der Baumönche des Klosters Marienfeld.89 Auch wenn diese Bautechnik in Frankreich schon nicht mehr angewandt wurde, gab es hierzulande nach 1200 für viele Kirchenprojekte eine große Nachfrage zu der westfälischen Eigenentwicklung, und es ist kein Wunder, dass auch Mariensee da-von berührt wurde.90 Marienfeld hatte als einziges Zisterzienser-Männerkloster im Münsterland gerade in der ersten Zeit nach seiner Gründung großen Zulauf und verfügte wahrscheinlich über viele gut ausgebildete Laienmönche. Demzufolge konnten Fachkraftüberkapazitäten für Projekte der Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen in ganz Norddeutschland bis ins Baltikum vermittelt werden. Die Marienfelder Bauhütte selbst verließ also das Kloster nicht, sondern stellte aus ihrem Nachwuchs Werk- oder Bau-meister mit Assistenten ab, die am jeweiligen Bauort zusammen mit heimischen Handwerkern eine Hütte bildeten, um dann über viele Jahre einen Kirchenbau auszuführen.91 Bei der Betrachtung der Zeitfolge war die Klosterkirche Marienfeld, wie man heute vermutet, schon bald zwischen 1185 und 1190 begonnen worden. Bestimmte Abmessungen der Kirche über-nahm man von der Stiftskirche Freckenhorst bei Münster, wo einer der Gründer, Widukind von Rhe-da, die Vogtei innehatte. Als erste Stätte für Stundengebet und heilige Messe stand den Mönchen die bestehende alte Wadenhartkapelle zur Verfügung.92 Um 1203 war der Bau der Abteikirche soweit gediehen, dass man vor dem Hochaltar im Chor den verstorbenen Spiritus rector des Klosters Bischof Hermann II. von Münster beisetzte (Abb. 3).93 Der Mönchschor in Marienfeld erstreckte sich über zweieinhalb Joche bis zur Vierung der kreuzförmig geplanten Kirche und dürfte zu dieser Zeit einge-wölbt und für den Chordienst brauchbar gewesen sein. Man hatte also um 1203, ca.13 Jahre nach Baubeginn genaue Vorstellungen in Westfalen, wie die neuartigen hochkuppeligen Gewölbe auszufüh-ren seien. Dies ist ein Zeitpunkt, in der der fortschreitende Bau der Marienfelder Klosterkirche für weitere Kirchenbauten durchaus eine Vorbildfunktion erfüllen konnte. Aus dieser Zeitfolge wird wahrscheinlich, dass nach 1207 ein Werkmeister der zweiten Mönchsgeneration Marienfelds für den Bau von Kloster und Kirche in Mariensee abgestellt wurde. Die Klosterkirche Marienfeld war eine der ersten in Westfalen, deren Mauern und Gewölbe aus Zie-geln gebaut wurden. Doch Qualität und Formate der Steine waren so unterschiedlich, dass ein Rohzie-gelmauerwerk auf Sicht nicht möglich war. Die Ziegelmauerung wurde deshalb ganz verputzt, der Außenbau rot eingefärbt und ein weißes Fugenbild aufgemalt. Dagegen wurden alle architektonischen Gliederungen aus dem gelben Sandstein des Teutoburger Waldes steinsichtig und naturbelassen ein-gebaut. 85 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 453. 86 CLASEN/KIESOW 1957, S. 121. 87 THÜMMLER/KREFT 1970; THÜMMLER 1978. 88 THÜMMLER/KREFT 1970, S. 142, 143, 254. 89 KEMPKENS 2008, S. 104–124; DORN 2008, S. 125–146. 90 DORN 2008, S. 125–146. Rezeptionen in: Lippstadt, Rheda, Minden, Münster, Paderborn, Berne, Bremen, Bassum, Lemgo, Hamburg, Herford, Osnabrück, Riga und weitere. 91 Das Generalkapitel in Citeaux beschäftigte sich mit dieser Arbeitsvergabe und verbot Einkünfte daraus. 92 LEIDINGER 1999, S. 8. 93 LEIDINGER 1999, S. 12, 13.36 Abb. 16: Marienfeld, Vierungsgewölbe. Abb. 17: Mariensee, Ostjochgewölbe. Gewölbeformen in der Klosterkirche Marienfeld/Westfalen (oben) und der Klosterkirche Mariensee (unten). Beide Gewölbe sind in Ringlagen aus Ziegel hochkuppelig gebaut. Rundstab-Gurte und -Rippen sind in Marienfeld in Werk-stein ausgeführt und zum Teil aufgemalt, während in Mariensee alle Profile in Ziegeltechnik gemauert und durch Putzüber-zug zum Werkstein umgedeutet wurden. Fotos: Andreas Sassen 2001.37 Abb. 18: 18a: Schnitt durch die Chorräume der Abteikirchen von Marienfeld (links) und Mariensee (rechts).Gemeinsam sind Höhe und Breite, die ursprüngliche Einschiffigkeit sowie die Art der Einwölbung. Gegenüber der geraden Chorrückwand in Marienfeld tritt in Mariensee als Forderung für eine Frauenkirche erstmals eine gotische polygonale Apsis auf, eine der frühesten in Norddeutschland. Zeichnung: Andreas Sassen 2001. Die Kirche zu Mariensee ist dagegen vollständig aus Ziegeln – die Gliederungen aus Formzie-geln errichtet worden, was durch die im nördlichen Sachsen bereits hochentwickelte Backsteintechnik möglich war. Hier wird deutlich, dass von Westen kommende Architekturentwicklungen im Osten bereitwillig aufgenommen und umgesetzt wurden, wogegen die fortschrittliche Ziegelbautechnik des Ostens kaum den Weg über die Weser nach Westen fand. Die Klosterkirche Marienfeld wurde zwar aus Ziegeln gebaut, doch mit Ausnahme des Burgturms von Rheda hat die Backsteintechnik in West-falen für lange Zeit keine Nachfolge gefunden.94 Abgesehen von den später in Bremen und Ostfries-land gebauten Ziegelkirchen, ist der größte Teil der Nachfolgebauten Marienfelds in Bruch und Werk-stein errichtet worden. Doch ebenso wenig wie die Klosterkirche in Marienfeld äußerlich die Besonderheiten ihrer Architektur preisgibt, verrät auch der Kirchenbau von Mariensee zunächst keinen Bezug nach Westfa-len. Erst der Blick in das Innere offenbart die enge Verwandtschaft der beiden aus Backstein errichte-ten Sakralbauten, wobei der erste Eindruck übereinstimmend von den tief ansetzenden und steil auf-steigenden zeltartigen Gewölben ausgeht. Nur der in Mariensee ausschließlich verwendete Backstein mit seinen leichten Gliederungen steht im Kontrast zu dem in Marienfeld verarbeiteten schweren Werkstein aus dem Teutoburger Wald (Abb. 16, 17) Ansonsten erfolgte hier wie dort die Teilung der Gewölbe in acht Kappenfelder und die obere Zusammenfassung der halbrunden Rippen durch einen Schlussring. Auch die Teilung der Gewölbejoche durch spitzbogige Gurte, deren Unterzüge als ganz typisches Marienfelder Merkmal ein großer ¾-runder Wulst aufgelegt ist, findet sich in gleicher Form 94 LOBBEDEY 2000, S. 139.38 in Mariensee wieder. Dagegen ist die mit Marienfeld verbundene charakteristische Kapitellplastik aus Blattmotiven in den Ziegelbau von Mariensee nicht übernommen worden. Eine weitere deutliche Nähe der Marienseer Kirche mit Marienfeld zeigt sich in den überein-stimmenden Grundmaßen (Abb.18, 18a). Beide Kirchenräume haben die gleiche Breite von 9 Metern. Ebenfalls sind die einzelnen Joche quadratisch angelegt, so dass sich sowohl in Marienfeld als auch Mariensee 9x9 Meter für ein Gewölbejoch ergeben. Die Abbildungen der Verfasser offenbaren auch die gleichartigen Proportionen der beiden im Prinzip einschiffig angelegten Kirchen. Dabei erreichen sie fast identische Höhenverhältnisse: über 16 Meter in Mariensee und 17 Meter in Marienfeld. Die Länge der Marienseer Kirche misst bei einer Unterteilung in drei Joche plus Apsis 32 Meter, das Ver-hältnis Marienfelds ist ähnlich mit fünfeinhalb Jochen und 52 Metern Länge. Abweichend von der im Osten gerade geschlossenen Männerklosterkirche Marienfeld tritt in Mariensee aus den Anforderungen für eine Frauenklosterkirche erstmals rechts der Weser eine frühgo-tische polygonale Apsis auf (Abb. 18a). Die direkte Einbeziehung der Apsis in Breite und Höhe des Gewölbesystems mit gleichhohen Gewölbegurten erforderte im gotischen Kirchenraum eine polygo-nale Form. Die mehrteilige gotische Apsis wurde fortan allgemein in die Saalkirchen der Nonnenklös-ter aufgenommen, denn sie hatte für diese Kirchen vorteilhafte akustische Eigenschaften. Darüber hinaus vermittelte sie schlanke, aufstrebende Verhältnisse und große Fensterflächen, die dem Sakral-raum eine bisher nicht dagewesene Lichtfülle gaben. Es ist bemerkenswert, dass im ländlich abgelegenen Mariensee frühzeitig richtungsweisende architektonische Leistungen aus mehreren Baukulturen zusammentreffen: Der westfälische Gewölbe-bau mit seinem unverwechselbaren Raumeindruck trifft auf den aus der Romanik hochentwickelten norddeutsche Backsteinbau. Verschiedene Zierformen werden daraus entlehnt, andere Einzelheiten treten dagegen völlig neu auf. Einzigartig ist aber die sich in Mariensee erstmals einstellende Frühgo-tik in Backstein, für die sich nach Westen bis zum Rhein keine Vorbilder finden lassen, sondern wahr-scheinlich französische Einflüsse geltend gemacht werden müssen. Abb. 19: Mariensee, Klosterkirche. Kopfkonsole am Beginn der Längsrippe im Gewölbe des Mitteljochs. Der Scheitel des Gurtbogens wird von einem Schaftring zusammengefasst. Foto Andreas Sassen 2001.39 Abb. 20: Mariensee, Klosterkirche, Nordseite. Derzeitige Darstellung der Kirche mit den drei Bauabschnitten und den sich anschließenden Teilen des Konventgebäudes von 1729. Zeichnung: Roggatz/Lemke, Klosterkammer Hannover 2001. Der Bau der frühgotischen Kirche in senkrechten Abschnitten Vom Verlauf der Arbeiten an Klosteranlage und Kirche ist zwar nichts überliefert, doch nach achtjähriger Bauzeit dürfte 1215 der Einzug des Konvents in Mariensee und auch die Weihe der östli-chen Kirche möglich gewesen sein (Abb. 21). Weitere Schlüsse können aus der Bauforschung an der Kirche gezogen werden, die nach der Spurenlage erkennbar in drei Bauabschnitten entstand (Abb. 20). Der abschnittsweise Bau von Zisterzienserkirchen findet zahlreiche Parallelen. Auch wenn der Ge-samtgrundriss der Kirche meist schon früh abgesteckt zu sein scheint, wurden die Fundamente erst im Baufortschritt gelegt, nur selten bei Baubeginn.95 In der Regel wurde die Kirche von Osten her begon-nen, die umgekehrte Baurichtung ist selten und scheint nur bei Ersatz älterer Kirchenbauten vorzu-kommen. Die Baunähte in Mariensee machen sich in der Verzahnung des Backsteinmauerwerks an zwei Stellen der Nordseite der Kirche bemerkbar. Die erste Baunaht (Abb. 35, 39) zeigt sich westlich des Stützpfeilers zwischen Ost- und Mitteljoch. Unmittelbar am Pfeiler ist der senkrechte Verlauf der Wartesteine zu sehen, in die die Ziegel des folgenden Bauabschnitts Mitteljoch eingreifen mussten. Hier ist schon zu sehen, dass vermutlich andere Ziegelbrenner das Steinmaß des ersten Bauabschnitts nicht mehr genau einhalten konnten; die Steine gerieten höher, so dass an die Wartesteine mehrfach angeflickt werden musste. Die zweite Baunaht findet sich zwischen Mittel- und Westjoch wiederum rechts von Stützpfei-ler (Abb. 40). Auch hier gelingt der Anschluss an die Wartesteine schon ab zwei Metern Höhe nicht mehr. Die Differenzen der wiederum geringfügig höheren Steine summieren sich schon im unteren Mauerbereich, weshalb auch hier mehrfach der Übergang ausgeglichen werden musste. 95 UNTERMANN 2001, S. 207.40 Abb. 21: Mariensee Klosterkirche, Apsis und Chor. Ansicht des ersten Bauabschnitts bei Bezug des Klosters durch den Konvent 1215. Zeichnung: Andreas Sassen 2016 Die Ziegelfertigung war eine sehr individuelle Kunst. Nach langen Ruhephasen am Bau waren die Ziegelbrenner sicherlich bemüht, sich mit ihren Backsteinen so gut wie möglich den Vorgängern anzupassen. Trotz geringer Toleranzen in den Maßen summieren sich diese mit der Anzahl der Stein-lagen, so dass die Verzahnung nicht mehr mit den Wartesteinen gelang. Die Differenzen zu früheren Steinproduktionen entstanden mit den Kastenformen, der Art des Lehms oder seinem Wassergehalt sowie dessen Zubereitung. Ebenso beeinflussen das Produkt die Dauer oder Temperatur des Brenn-vorgangs. An vielen Zisterzienserbauten sind die anfangs gewählten Bau- und Gliederungsformen über Jahrzehnte fast unverändert beibehalten worden: die Bauleute bildeten offenbar das bereits Vorhande-ne getreu nach und griffen nicht, wie zuweilen üblich, zu jeweils aktuellen Formen. Selbst bei der Wiederaufnahme des Baubetriebs nach langer Zeit, wie in Köln, Altenberg, Marienstatt und Haina, ist die Gesamtform zur Wahrung der Einheitlichkeit unverändert weitergeführt worden.96 In Mariensee wurde die Grundkonzeption der äußeren und inneren Gesamterscheinung mit den ursprünglichen Ab-messungen des Bauwerks zwar eingehalten, doch die sich an der Klosterkirche zeigenden Abschnitte machen auf einen Wandel in der Architektur aufmerksam. Er zeigt sich durch anders gestaltete Fenster und einer im Inneren abweichenden Wand- und Gewölbegestaltung. Diese Möglichkeit bestand durch 96 UNTERMANN 2001, S. 207.41 die in Mariensee erfolgte Bauweise der neuen Spitzbogentechnik, die Kirche in senkrechten Abschnit-ten zu errichten und dabei längere Bauzeiten zu überbrücken. Jeder einzeln überwölbte Raum war als sogenanntes Joch eine stabile Baueinheit, die für sich benutzbar war. An diese Bauweise wurde ver-mutlich auch in Mariensee die Finanzierung des Projektes angepasst. Allem Anschein nach verfügte der Stifter Bernhard zunächst über ausreichende Mittel, den Bau voranzuführen. Waren diese mit der Errichtung eines Kirchenteils erschöpft, wurde erst weitergebaut, bis wieder Geld zur Verfügung stand. Sein Tod konnte jedoch einen tiefen Einschnitt bedeuten, der das Projekt in Gefahr brachte. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts musste einkommendes Geld aus Ablässen die aus der Familie Wölpe fehlenden Stiftungen ablösen. 97 Am Bau der Kirche von Mariensee lässt sich ablesen, dass zuerst die polygonale Apsis mit ih-ren einhüftigen Gewölbeteilen zusammen mit dem Gewölbequadrat des Ostjochs als stabile Bauein-heit entstand (Abb. 21). Die nach Westen offene Seite des fertigen Kirchenjochs wurde mit einer pro-visorischen Wand aus Holz geschlossen, sodass dieser Teil seinen Aufgaben als Klosterkirche zuge-führt werden konnte. Dann folgte eine Bauunterbrechung, die sich möglicherweise über Jahre hinzog. War die Finanzierung des Weiterbaus gesichert, nahm man die Arbeiten am mittleren Joch mit der Errichtung der Frauenempore wieder auf, sodass die gewölbte Halle darunter schon bald als provisori-scher Nonnenchor genutzt werden konnte. Stifter und Konvent werden nach dem ersten Bauabschnitt auf die Errichtung des Mitteljochs mit der darin enthaltenen östlichen Emporenhälfte hingearbeitet haben, um einen für die Nonnen abgetrennten Raum in der Klosterkirche zu bekommen. Im Jahre 1221 verlor das Kloster seinen Gründungsstifter. Graf Bernhard II. von Wölpe war bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen, seine Beisetzung in der Kirche von Mariensee ist je-doch nicht belegt. Bekannt ist nur, dass aus Anlass des Todes von Graf Bernhard Bischof Yso dem Kloster die Kirche von Kirchwehren und zwei Höfe stiftete. Möglicherweise wird um 1221, sechs Jahre nach Weihe des ersten Bauabschnitts, das Mittel-joch der Kirche weitestgehend gestanden haben, sodass die Stiftung Bischof Ysos von Verden zur Fertigstellung dieses Teils der Kirche beigetragen haben könnte. Dieses Zwischenziel stellte den Non-nen mit der ersten Hälfte ihrer Empore einen wichtigen Teil der Klausur zur Verfügung. Das Fehlen des Initiators der ersten Stunde wird sich bemerkbar gemacht haben und dürfte sich 1231 mit dem Ableben Bischof Ysos, der schließlich auch zur Familie Wölpe gehörte, noch deutlicher gezeigt haben. In die Situation, dass der Bau von Kirche und Kloster stockte, kamen damals viele Klosterstiftungen; ehemals reichliche Mittel flossen langsamer und blieben irgendwann aus. Wahrscheinlich war dies der Grund, dass die Äbtissin Gertrud von Mariensee (1255–1267)98 sich 1263 an den Kölner Erzbischof Engelbert II. um Hilfe wandte.99 In der daraufhin ausgestellten Ablassurkunde vom 25. März 1263 ist von der Absicht der Vollendung der Kirche die Rede. 100 Über den zeitlichen Abschluss der Bauarbeiten gibt es unterschiedliche Ansichten, doch nach Vorstellungen der Verfasser dürfte er mit diesem Ablass auch durchgeführt worden sein. Gegenüber Ost- und Mittel-joch zeigt sich am Westjoch ein weiterentwickelter Gewölbebau, der im letzten Drittel des 13. Jahr-hunderts bereits üblich war. Demnach müsste die Laufzeit dieses ersten Ablasses, der nach Ausstel-lung für die Bauzeit bis zur Vollendung der Kirche galt, ausgereicht haben. Nach allgemeiner Lesart soll auch die Bemühung der Äbtissin Wilburgis (v. Wölpe (?) 1293–1314)101 um einen zweiten Ablass im Jahre 1312 noch für Bau und Vollendung der Kirche in An-spruch genommen worden sein, obwohl der dem ersten Ablass wohl zum Teil ungenutzte Zeitraum von 52 Jahren für den gleichen Zweck als sehr lang erscheint. Die im Exkurs (S. 94) angeführte, von Bischof Heinrich von Breslau und vier anderen Bischöfen am 7. Mai 1312 ausgestellte Ablassurkunde für das Kloster dürfte vermutlich noch andere Gründe gehabt haben.102 97 Ablass: indulgentia. Im 13. Jh. fand die Lehre vom "Schatz der überschüssigen guten Werke der Heiligen" Eingang. Die wahre Reue des Sünders blieb nach der Kirchenlehre Voraussetzung für die Wirksamkeit des Ab-lasses. Ablass wurde auch gewährt für den Bau von Kirchen, Hospitälern, Brücken, Straßen. Bonifatius VIII. führte 1300 den Jubiläums-Ablass ein. Im 15./16. Jh. uferte das Ablasswesen aus; im Volk herrschte die Mei-nung, man könne Sünden durch Geld abgelten. 98 DOLL, S. 40. 99 Engelbert II. (von Valkenburg) Erzbischof von Köln 1261–1274. 100 Calenb. UB 5, Nr. 70. 101 DOLL, S. 42. 102 Calenb. UB 5, Nr. 103; WUB 10, Nr.373.42 Nach Lesart der Verfasser spricht der Urkundentext vom Ausbau der Klausur und dem bereits eingetretenen desolaten Zustand von Teilen der Klosteranlage und der Kirche. Erfahrungsgemäß ist auch heute, etwa 100 Jahre nach Fertigstellung von Gebäuden eine gründliche Sanierung, zum Bei-spiel die Erneuerung der Dachdeckung höchst notwendig. Wohlgemerkt deckte man in damaliger Zeit die Dächer vielfach mit Holzschindeln, die zwar preiswert waren, jedoch naturgemäß nur eine be-grenzte Lebensdauer hatten.103 Bei der Größe der Gebäude war dies ein Unternehmen, das der Kon-vent allein zu dieser Zeit nicht stemmen konnte, zumal die Unterstützung der Grafenfamilie Wölpe durch deren Aussterben bereits nach 1300 weggefallen war. Die Grafschaft Wölpe kam an die welfischen Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, die kein unmittelbares Interesse an dem Kloster hatten, denn Mariensee war nur noch eines ihrer Calenberger Klöster. In der Folgezeit verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Konvents, so dass ohne die früher üblichen Zustiftungen der Gründerfamilie finanzielle Engpässe mit Veräußerung von Besitz kompensiert werden mussten. Der im Exkurs angeführte Text der Sammelindulgenz für Kloster Mariensee vom 7. Mai 1312 vom Konzil in Vienne (Frankreich, Dep. Isére) (1311-1312) ist nach neuerem Transkript und Überset-zung von Eberhard Doll 2007 veröffentlicht worden. Beschreibung des Kirchenbaus Der Backsteinbau des Klosters Mariensee Im großen Gebäudekomplex der Klosteranlage Mariensee zeigt sich heute nur noch die aus der Früh-zeit stammende Kirche als steinsichtiger Ziegelbau (Abb.1). Alle übrigen Gebäude, um 1729 im schlichten Spätbarock erbaut, sind in verputzter Ziegelarchitektur erstellt worden. Die mittelalterliche Anlage war dagegen einheitlich in Rohziegeln errichtet worden. Während die Kirche in frühgotischer Architektur entstand, baute man die Klausurgebäude mit dem Kreuzgang herkömmlich im romani-schen Stil, bzw. in romanischen zur Gotik verschmelzenden Stilformen, wie es in der Übergangszeit nach 1200 üblich war. Dies zeigen Reste rundbogiger Mauergliederungen mit dem einstigen Fußbo-denniveau, die man auf der Südseite am Außenmauerwerk unter der heutigen Damenempore freilegte (Abb. 16).104 Weitere Ausgrabungen innerhalb des heutigen Innenhofes förderten Fundamente und den Fußboden des mittelalterlichen Kreuzgangs zutage, der so wie die Kirche etwa 70 cm unter dem Niveau des heutigen Konventbaues lag. Die Grundmauerzüge zeigten aber auch, dass die Klausurge-bäude der ersten Anlage kleiner waren und in ihrem Grundriss ein nach Norden offenes U ergaben. Demnach hat es damals keinen Nordriegel gegeben, womit sich die frühe Klosteranlage von Marien-see zu den damaligen Frauenklöstern einreiht, nicht nach dem Bernhardinischen Plan errichtet worden zu sein. Nach vergleichenden Forschungen von Claudia Mohn gab es allgemein bei den Nonnenklös-tern keine einheitlich angelegten Klausurbauten, selbst die Bauten der Zisterzienserinnen waren in ganz unterschiedlicher Form angelegt.105 Die Individualität der zisterziensischen Nonnenklöster erlaubte wohl auch in Mariensee, dass sich aus der ursprünglichen Anordnung der Klosterbauten eine relativ frei stehende Kirche ergab. Da sie nur an der Südseite des westlichen Jochs mit dem Klausurgebäude Verbindung hatte, blieb rundum der größte Teil der Kirche unverdeckt (Abb. 50). Der Baumeister des Klosters hatte die Kirche so weit wie möglich separat gestellt, um vermutlich das Sonnenlicht ganztägig in das Bauwerk einzubeziehen. Durch die zahlreichen großen Fenster kam er dem damals aufkommenden Wunsch nach Sonne, Licht und Wärme im sakralen Raum entgegen. Möglicherweise auch zur Hervorhebung der metaphysischen Bedeutung des Lichtes nach der sich damals verbreitenden Lehre des Abtes Suger von Saint Denis.106 103 BÖHMER/LEIDINGER 1998, S. 77. Die Kirche des Klosters Marienfeld war bis um 1400 mit Schindeln gedeckt, eine kostengünstige Bedachung, die dann gegen Blei und Kupfer ausgetauscht wurde. 104 ROGGATZ/LEMKE 2001. 105 MOHN 2006. 106 SUGER VON SAINT DENIS (1080–1151), Ratgeber Ludwigs VI. Von 1147 bis 1149 verwaltete Suger das Königreich als Reichsverweser. Als Abt von Saint-Denis bei Paris gab er vor 1137 die Abteikirche in Auftrag, die als erster Kirchenbau der Gotik gilt. Suger verfasste Schriften zur Architekturtheorie und zur Lichtmetaphy-sik. Windows Multimedia-Lexikon 2002.43 Abb. 22: Mariensee, Klosterkirche von Norden. Ansicht der Kirche nach ihrer Vollendung um 1300. Die Nordseite des Sakralbaus macht mit den wechselnden Fensterformen die zeitlich weit auseinanderliegenden Bauabschnitte deutlich. Rekonstruktionszeichnung: Andreas Sassen 2015.44 Abb. 23, 23a: Jerichow, Klosterkirche der Prämonstratenser. Ostansicht und Innenraum nach Osten um 1150. Jerichow war prägend im Backsteinbau des Nordens. Aufnahmen aus Krause, Sachsen Anhalt 1980, S. 136, 138. Inmitten der konservativ romanischen Umgebung von Wunstorf, Idensen, Mandelsloh und Loccum entstand in Mariensee ein Backsteinbau erstmals in gotischer Bauauffassung. Dies gelang in Zusammenwirkung mit den Ziegelmachern und Maurern, die möglicherweise aus Verden, einer der nächstliegenden großen Backsteinstädte kamen. Dabei konnte man in der Region auf die Erfahrungen einer schon langjährigen Ziegeltradition zurückgreifen. Schon im Verlauf des 12. Jahrhunderts waren in der Altmark bedeutende romanische Backsteinbasiliken entstanden, unter denen die Kirche des 1144 gegründeten Prämonstratenserklosters Jerichow (Abb. 23, 23a) die älteste ist und mit ihrer Ar-chitektur eine wichtige Vorbildfunktion einnimmt.107 Schiff und Chor von Jerichow sind flach ge-deckt, nur der hochliegende Ostchor hat eine zweischiffige gewölbte Krypta. Nach 1170 folgte die Augustiner-Chorfrauenkirche Diesdorf in massiven Formen, jedoch als erste umfassend kreuzgratge-wölbte Kirche der Altmark.108 Erst die um 1208 fertiggestellte Benediktinerinnenkirche Arendsee zeigt eine spätromanisch vollendete Form mit kuppeligen Kreuzgratgewölben.109 Diese und eine Reihe weiterer Kirchen beeindrucken durch die Sorgfalt des Backsteinbaus und verschiedene spezielle Bau-zierden, wobei der Kreuzbogenfries unter dem deutschen Band allgemein hervortritt (Abb. 23, 28). Die in der Altmark im 12. Jahrhundert unvermittelt auftretende hochentwickelte Baukultur in Ziegelstein lässt sich über die Stiftskirche von Jerichow auf Kirchenbeispiele nach Oberitalien zurück-verfolgen. Wahrscheinlich waren an ihrem Bau lombardische Ziegelfachleute beteiligt, die durch die lebhaften politischen Verbindungen deutscher Fürsten mit Italien nach Norddeutschland vermittelt wurden.110 Das verbreitete Auftreten von Backsteinkirchen im Norden lässt vermuten, dass um die Mitte des 12. Jahrhunderts anscheinend mehrere oberitalienische Bau- und Ziegelhütten an Orten zwi-schen Ems, Weser und Elbe arbeiteten. Sie gaben ihr Wissen an einheimische Handwerker und Hilfs-kräfte weiter und um die Jahrhundertwende dürften Folgegenerationen heimischer Ziegelmacher nach der Praxis der Norditaliener gearbeitet haben. 107 KRAUSE 1993, S. 421, 422. 108 KRAUSE 1993, S. 398. 109 KRAUSE 1993, S. 390, 391. 110 MÜLLER/DOLL 2000, S. 7–8. Die sichelförmige Flachschicht über den Fensterbögen war ein Merkmal, das sich auch in Oberitalien wiederfindet,45 Die Verbindung Jerichows als eine Kirche der Prämonstratenser mit dem Bistum Verden liegt nahe und macht nachvollziehbar, dass die sich entwickelnde Stadt Verden von der Backsteinbaukultur berührt wurde. Die Johanniskirche entstand frühzeitig in seltener Form als tonnengewölbte Saalkirche und noch vor 1200 wurde der aus Werkstein begonnene Domturm in Ziegel aufgestockt. Durch Yso von Wölpe (Abb. 2) ist Verden als Bischofssitz weitgehend ausgebaut worden. Dabei entstand zwi-schen 1212 und 1220 die Andreaskirche mit doppelten romanischen Gurtbögen, den auffallenden Baumerkmalen aus der Altmark sowie kuppeligen Kreuzgratgewölben. Die Bischofsstadt erhielt erst-mals eine schützende Ummauerung mit Türmen und Toren, die in Backstein ausgeführt wurde.111 Während seiner Amtszeit verfügte Bischof Yso in seiner Stadt sicherlich über die besten Ziegelhand-werker, die in der Lage waren, nach Plänen eines westfälischen Werkmeisters in Mariensee eine früh-gotische Backsteinkirche in neuester Bautechnik auszuführen. Die Bearbeitung der Ziegel für den Kirchenbau Die im Handstrichverfahren geformten Ziegel wurden während des Trocknungsprozesses in der Traditi-on der Werksteinbearbeitung nachbearbeitet. Diese sogenannte Riefelung des ungebrannten Rohlings erfolgte zur Glättung der Steine, wie auch zur Entfernung der Quetschfalten aus dem Formkasten. Dadurch erreichte man die Ausbildung besonders exakter Ecken und Flächen an Fensterleibungen und Gebäudeecken. Aber auch bereits versetzte Steine erhielten eine Nachbearbeitung. Um eine saubere Schräge der Fensterleibung zu erzielen, wur-den Überstände einzelner Steine sauber abgetragen und geglättet. Die Nachbearbeitung am Rohling, die mit dem älteren Backsteinbau verbunden war, reicht bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts und bildet somit auch eine gewis-se Datierungsgrundlage. Sie ging aber vielfach auch nach den Aufkommen der Formsteine weiter und wurde gerade bei reich profilierten Backsteinen angewendet. Allerdings war die Fertigung von Formsteinen sehr teuer, für einen Formstein musste man den Wert von zehn Mauersteinen berechnen. Das Brennen der Steine für das Sichtmauerwerk geschah in mindestens zwei Ziegelöfen, die wechselweise betrieben wurden. Die trockenen Rohlinge wurden im länglichen Ofenraum nach einem bestimmten System gestapelt und mit entsprechend do-siertem Unterfeuer gebrannt. Gerade der Brennvorgang, der mit trockenem Holz durchgeführt wurde, brauchte Fachleute mit großer Erfahrung. Trotzdem lieferten die jeweiligen Brände mehr oder weniger unterschiedliche Ergebnisse. Man musste sortieren und verwendete im Sichtmauerwerk nur Erste Steinqualität, im Hintermauer-werk Zweite Qualität und für das Füllwerk im Inneren den Bruch sowie verzogene und verbrannte Ziegel, die dann mit Kalkmörtel vergossen wurden. 112 Wahrscheinlich wurde während der Bausaison zur Erzeugung der vielen Ziegel, die nicht im Sichtmauerwerk gebraucht wurden auch das sogenannte Feldbrandverfahren ange-wendet. Hierbei sind die Rohlinge unter freiem Himmel in langer Reihe gestapelt, mit Brennholz umgeben und gebrannt worden. Dabei arbeitete man kontinuierlich in eine Richtung: Vorn wurde gestapelt, getrocknet und gebrannt und hinten die fertigen erkalteten Steine aus der Asche abgeräumt. Im Gegensatz zu den hartgebrannten Mauerziegeln verwendete man für den ringförmigen Aufbau der Gewölbe einen länglichen weichgebrannten Ziegel, der spezifisch leicht war und sich aufgrund seiner Saugfähigkeit schnell im Mörtelbett versetzen ließ.113 Die äußere Erscheinung der Klosterkirche Die Klosterkirche Mariensee wurde ein hochaufragender Bau, bestehend aus einem polygona-len Chor im Osten und drei gewölbten Jochen mit einer geraden Abschlusswand im Westen, auf des-sen Giebel im 19. Jahrhundert ein kleiner Glockenturm gesetzt worden ist. Nach den bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts in Norddeutschland verbreiteten romanischen Kirchen mit ihrem gesetzten aber soliden Erscheinungsbild, wirkt die Klosterkirche Mariensee durch erstmals verwirklichte frühgotische Formen als aufstrebendes schlankes Bauwerk (Abb. 22). Dieser Eindruck wird von ihrer Höhe hervor-gerufen und von den die Außenmauern einteilenden Lisenen unterstützt, die erst im 19. Jahrhundert zu Strebepfeilern ausgebaut wurden. Am polygonalen Chor sind sie in dichter Folge angesetzt, um den Seitenschub des mehrteiligen Chorgewölbes aufzunehmen. Nach Westen hin stützen sie die Gurtbogen und markieren die Abschnitte der Gewölbejoche in der Kirche. Die dadurch entstandenen hochrecht-eckigen Wandfelder sind durch überschlanke Lanzettfenster aufgelöst, die aufgrund ihrer frühen Ent- 111 HAIDUCK 2009. Die sichelförmige Flachschicht findet sich an den Kirchen der ostfriesischen Halbinsel, z. B. Hage, Victobur, Ardorf, Aurich-Oldendorf, Reepsholt, Middels,. 112 Nach freundlicher Auskunft von Dr. Ulfried Müller, Garbsen. 113 Nach eigenen Recherchen der Verfasser.46 stehung noch ohne Maßwerk sind. Ihre ungegliederten Leibungen öffnen sich zunehmend nach außen, sodass sie durch die Abschrägungen komplizierte asymmetrische Formziegel erforderten, die in meis-terlicher Qualität hergestellt und verbaut worden sind (Abb. 27). Der Geist gotischer Bauauffassung drückt sich in Mariensee erstmals in einer konsequenten Höherentwicklung der Architektur aus (Abb. 22, 26). Für diese neuartige, von der Gotik bestimmte Gesamterscheinung der Kirche finden sich zunächst keine Vorbilder. Sowohl in Westfalen als auch am Rhein lieferte zu dieser Zeit der Übergangsstil zwar glänzende Ergebnisse, doch von der Grundhaltung her verharrt die Baukunst noch in der Romanik. Bis zum Baubeginn der Klosterkirche Marienstatt im Westerwald um 1222 ist am Rhein keine Kirche entstanden, die man rein gotisch bezeichnen könnte. Dagegen finden sich in der eingangs schon erwähnten französischen Provinz Beispiele und Lösungen, die für Mariensee anwendbar gewesen sein könnten. Im Walde von Compiègne, 10 km südlich der Stadt, wurde um 1200 die Abteikirche St.-Jean-aux-Bois im Stile reinster Frühgotik erbaut (Abb.25).114 Damals ein hochmodernes Muster der Architektur und mögliches Vorbild für Mariensee, denn es finden sich vergleichbare Proportionen, Abmessungen und Fensterformen. Im Gegensatz zu dieser Benediktinerinnenkirche mit einem einfachen, gerade geschlossenen Chor, ging die Entwick-lung in Mariensee weiter: die Frauenkirche erhielt eine Apsis auf polygonalem Grundriss. Das gesamte Kirchengebäude steht auf einem Sockel und mehreren Quaderlagen aus hellgrau-em Sandstein, der aus einem der Steinbrüche im Deister geliefert wurde. Das umfangreiche, schwere und sehr kostspielige Material wurde aufgrund der damals schlechten Wegeverbindungen vom Ober-lauf der Leine auf Flachbooten flussabwärts bis Mariensee transportiert.115 Mit dem aufwendigen ho-hen Werksteinunterbau schützte man das daraufstehende Ziegelmauerwerk vor aufsteigender Feuch-tigkeit. Aus Gründen der Sparsamkeit hat man am zuletzt gebauten Westteil zwar den Sockel daraus errichtet, aber auf die weiteren Quaderlagen verzichtet. Der an der Kirche verwendete Backstein im Klosterformat 30:14:8,3 cm ist dagegen vor Ort erzeugt worden. Der Untergrund des Leinetals ist von tonigen Erdschichten durchzogen, die in nahen Gruben zur Gewinnung von Ziegellehm abgebaut wurden.116 Seine Weiterverarbeitung zu Ziegeln geschah jedoch in unmittelbarer Nähe der Kirchenbaustelle, um weite Transporte des brüchigen Mate-rials zu vermeiden. Das für uns heute sichtbar solide und gleichmäßig erscheinende Farbbild der Backsteine an der Kirche war das Ergebnis sorgfältiger Sortierung. Die Verbauung der Ziegel erfolgte damals im unregelmäßigen, sogenannten Wilden Verband, wobei nach unterschiedlicher Anzahl von Läufern ein Binder folgte. Dies ist eine wichtige Datierungsgrundlage und erleichtert die Erkennung späterer Veränderungen. Sie wurden zwar stets mit Ziegeln im historischen Klosterformat und passen-dem Farbton vorgenommen, doch die im 19. Jahrhundert am Mitteljoch eingebauten Fenster, die Pfei-ler und Ausbesserungen unterhalb des Maßwerkfensters am Westjoch weisen vielfach den erst später angewandten Kreuzverband auf. Abb. 24, 24a: Das in Mariensee angewandte Profil am Traufgesims, umgekehrt am Sockel und innen auf den Kämpfern der dreieckigen Pfeiler (rechts) ist eine Standardform der Romanik. Dazu die Kämpferplatte vom Petersberg bei Halle (links). Umzeichnung nach Lübke und Foto: Andreas Sassen. 114 MÄKELT 1906, S. 49-50, nennt eine Bauzeit der Kirche St.-Jean-aux-Bois um 1200, womit ihr eine Vorbild-funktion für Mariensee zukäme. Im Katalog von KIMPEL/SUCKALE wird die Entstehungszeit um 1230-50 genannt. Damit wäre Mariensee eine Parallelentwicklung. 115 Freundlicher Hinweis von Dr. Ulfried Müller, Garbsen. 116 Im Neustädter Gebiet gab es traditionell zahlreiche Ziegeleien. Der letzte noch tätige Ziegelmeister in Bor-denau lieferte bis jetzt Formen und Farben für Restaurierungen in Deutschland. 47 Abb. 25: St.-Jean-aux-Bois bei Compiègne, Zisterzienserinnen-Klosterkirche. Nordansicht von 1906 der um 1200 im reinen frühgotischen Stil erbauten Kirche. Sie könnte mit ihren Proportionen vorbildhaft für Mariensee gewesen sein. Umzeichnung: Andreas Sassen nach Mäkelt 2015 Abb. 26: Mariensee, Klosterkirche, begonnen nach 1207. Die Nord-Außenansicht zeigt im ersten Bauabschnitt mit St.-Jean-aux-Bois ähnliche Proportionen, Dreifenstergruppen und frühzeitliche Lanzettfenster. Rekonstruktionszeichnung: Andreas Sassen 2015.48 Abb. 27: Mariensee, Klosterkirche, Chorhaupt mit mittlerem Apsisfenster. Traufgesims, Kreuzbogenfries und Begleitbogen über der Fensterwölbung sind Anleihen aus norddeutscher Backstein-Romanik. Foto: Andreas Sassen 2001. Die Ziergliederung am Oberteil des Chorhauses vermittelt deutlich, wie traditionelle romani-sche Formen in die Frühgotik eingehen. Der obere Bereich des Mauerwerks ist außer am Westgiebel von einem umlaufenden Fries aus sich überschneidenden Rundbögen abgeschlossen (Abb. 27). Dieser Kreuzbogenfries ist in der romanischen Backsteinarchitektur Norddeutschlands weit verbreitet und tritt erstmals in Jerichow in der Altmark auf (Abb. 28a) Wie andere Ziegelmuster ist sie in der Werk-steinbearbeitung vorgebildet, denn die aus rotem Sandstein ab 1137 gebaute Klosterkirche Fredelsloh im Solling zeigt diese Zierform in kontrastierenden hellen Sandstein an ihrer Westapsis (Abb. 28). 117 Abb. 28, 28a: Viele Architekturteile aus Werkstein lieferten Vorlagen, die in Backstein nachgebildet wurden. Links, Fredelsloh, Klosterkirche nach 1137 mit einem Kreuzbogenfries in Sandstein. Rechts eine Ausbildung in Backstein an der Klosterkirche Jerichow wenige Jahre später. Umzeichnung nach Lübke und Foto: Andreas Sassen 1990. In Mariensee ist sie durch Weglassen des Deutschen Bandes stark vereinfacht. Ansonsten tritt der Bo-genfries im oberen Bereich durch einen Füllputz geschickt zurück, sodass mit den unten offenen klei-nen Spitzbogen ein rein gotisches Erscheinungsbild entsteht (Abb. 27). Jeder Rundbogen be 117 THÜMMLER/KREFT 1970, S. 75–77, 261. Die seltene Ausbildung des Kreuzbogenfrieses in Werkstein ist an der Westapsis der Stiftskirche Fredelsloh im Solling zu finden. Im Kontrast zur aus Rotsandstein gebauten Kirche ist er in hellem Stein gearbeitet. Fredelsloh wurde 1137 vom Hochstift Mainz wahrscheinlich als Prä-monstratenser-Doppelkloster gegründet, der Kirchenbau entstand zwischen 1137 und 1172.49 Abb. 29: St.-Jean-aux-Bois Abb. 30: Mariensee Darstellung der im Maßstab angeglichenen Chorseiten der frühgotischen Nonnenkirchen. In St.-Jean-aux-Bois eine flache Chorwand mit Dreifenstergruppe für den im Osten liegenden Nonnenchor, in Mariensee eine polygonal angelegte Apsis für den fernen Nonnenchor auf der Westempore. Umzeichnung nach Mäkelt und Zeichnung: Andreas Sassen Abb. 31, 31a: Dreifenstergruppen, links: Marienkirche Lippstadt, rechts Kloster Marienfeld. Umzeichnungen nach Lübke: Andreas Sassen.50 steht aus sieben Formsteinen unterschiedlicher Größe. Durch Übereinanderlegen ergeben sich zwei Schnittpunkte, durch die unter einem Rundbogen zwei Spitzbogen entstehen, die auf Konsolen auflie-gen. Die mit Füllputz geschlossene Version des Kreuzbogens blieb zwar auf Mariensee beschränkt, in offener Form finden wir sie an der etwas später begonnenen Klosterkirche Güldenstern in Mühldorf an der Elbe. Auch Backsteinbauten in Ostfriesland wiederholen zum Teil den Jerichower Fries oder wandeln ihn auf vielfache Weise um.118 Eine weitere Anleihe aus der Romanik ist das Traufgesims zur Stabilisierung der Mauerkrone, das beim Bau der Kirche in umgekehrter Form schon am Mauersockel Anwendung fand. Die Teile aus Platte, Wulst und Kehle sind wie der Sockel aus grauem Deistersandstein gearbeitet und folgen einem viel verwendeten Profil, das 1160/70 an den Säulenkapitellen der Domkrypta von Naumburg verwen-det wurde und sich an den Ostteilen der 1142/51 geweihten Stiftskirche Petersberg bei Halle wieder-findet (Abb. 24).119 Dieses Standardprofil der Romanik ist ebenso als Kapitellform an den Kämpfern der dreieckigen Pfeiler im östlichen Teil der Kirche verwendet worden. Dort ist es auf jeden Fall ori-ginale Bausubstanz (Abb. 24a), am Traufgesims wahrscheinlich auch, geht man davon aus, dass die dunkleren Teile original sind, die helleren dagegen 1867 ersetzt worden sind (Abb.27). Ein ebenfalls aus der Romanik übernommenes Detail ist der Begleitbogen über den Fenstern. In Mariensee ist er aus glasierten Formziegeln gearbeitet und tritt deshalb als Bauschmuck besonders hervor (Abb. 27). Die dekorative Flachschicht über den radial gestellten Ziegeln der Fensterbögen ist ein im 12. Jahrhundert weit verbreitetes Gestaltungsmerkmal, der im Backsteinbau zum Teil als sichelförmiger Bogen ausge-führt wurde. Ursprünglich ist diese Bauzier eine Erscheinung im italienischen Backsteinbau des 11. Jahrhunderts und findet sich an Kirchen in Mailand, Lomello, Agliate und weiteren Orten. In Deutsch-land erscheint sie erstmals in Tuffstein am Westbau von St. Pantaleon in Köln, der bis Mitte des 11. Jahrhunderts erbaut worden war.120 Als rein gotische Teile bleiben offensichtlich die spitzbogigen Fenster mit der für die Frühgo-tik typisch gedrückten Bogenform. In der Gesamtansicht dominiert die überschlanke Lanzettform, die sich mit dem hochrechteckigen Polygonteil verbindet und den beabsichtigten gotischen Eindruck ver-mittelt. Die ursprüngliche Ausführung der Wandvorlagen zur Verstärkung oder Stützung der innen angebauten Gurtbogenpfeiler waren vermutlich als Lisenen (oder dornförmig?) gestaltet, wie es der Bauaufnahme von 1844 zu entnehmen ist. Die heutige Form aller Stützpfeiler entstand während der Sanierung durch Steffen und Hase nach 1867. Obwohl die Kirche sicherlich vom ersten Baumeister als Ganzes konzipiert worden ist, wird am Außenbau an den wechselnden Fensterformen deutlich, dass man sich im Bauverlauf an den da-mals schnell ändernden Trend der gotischen Stilentwicklung anpasste. In der Apsis, mit der die erste Bauphase beginnt, sind in die schmalen Teile des Polygons hoch aufragenden Lanzettfenster einge-setzt worden. Diese Fensterform setzt sich im Ostjoch auf beiden Seiten als eine Dreifenstergruppe fort. Die unterschiedliche Höhe innerhalb der Gruppe ergibt sich aus dem steigenden Schildbogen im Inneren, bei dem die mittlere Fensterbahn bis in die Spitze stößt. Ein Merkmal der frühgotischen Lan-zettfenster und Dreifenstergruppen ist das Fehlen jeglicher Maßwerke. Dreifenstergruppen sind eine Bauform, deren Disposition Mäkelt in Frankreich schon für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweist. Am Rhein und in Westfalen zeigt sie sich im Übergangsstil um 1200 an verschiedenen Orten mit romanischem Bogen (Abb. 31). Noch in der Zeit vor 1200 kam die Verwendung des Spitz-bogens der Frühgotik dazu, wie die Dreifenstergruppe in der Chorwand der Abteikirche St.-Jean-aux-Bois zeigt (Abb. 29). Ihr relativ einfacher Aufbau könnte, wie die dortigen Lanzettfenster so wie die Gesamterscheinung der Kirche, für Mariensee vorbildlich gewesen sein.121 Die schlichte Fensterform an St.-Jean-aux-Bois entspricht der frühgotischen Backsteinausführung in Mariensee, die im ersten Bauabschnitt ausgeführt, wohl eine der frühesten Dreifenstergruppen in Norddeutschland ist. Der Werkmeister setzte die Idee der damals fortschrittlichen Fensterformen konsequent in der einheitlichen Gestaltung des Chorraums von Mariensee um. So fügte er Lanzettfenster in die schlanken Apsisseiten ein und löste die neun Meter breiten Schildwände des Ostjochs mit Dreifenstergruppen aus ebenfalls 118 HAIDUCK 2009. 119 KRAUSE 1993. S. 443, 453. 120 Freundlicher Hinweis von Dr. Jens Reiche. 121 MÄKELT 1906, S. 49–50, 51 hochaufragenden Lanzettfenstern auf (Abb. 26, 37). Bei der Größe der Anlage, beließ er breite Wand-bahnen zwischen den Fenstern, um auf der statisch sicheren Seite zu bleiben. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts sind Dreifensterstaffelungen sehr häufig zur Anwendung gekommen. Nach Lösungen im Rundbogen an der Marienkirche in Lippstadt und möglicherweise an der Ostwand des Chors von Marienfeld, wurde diese Fensterform erst nach der Weihe der Kirche 1221 im Spitzbogen mit eingestellten Säulen an den Querhäusern realisiert (Abb. 15, 31a).122 Dies geschah anscheinend gleichzeitig mit dem Bau der sehr ähnlichen Dreifenstergruppe am Westgiebel von Groß St. Martin in Köln, die mit der Westverlängerung der Kirche um 1220–25 entstand. Wahrscheinlich baute man zu dieser Zeit auch die gestaffelten Fenster an der Westfront von Heisterbach.123 Eine ei-genständige Lösung fand ein Baumeister in Westfalen, indem er an den Querhausfassaden von St. Aegidien in Wiedenbrück/W. eine Dreifenstergruppe samt Kleeblattportal der Kirche zu Cha-migny/Seine et Marne wiederholte.124 Neben den genannten Beispielen findet sich diese Fensterord-nung am Dom zu Münster, an der Zisterzienserkirche Riddagshausen, den älteren Chorteilen des Doms von Güstrow, der Westfassade von Lehnin, an den Querhäuser von Cammin, an der Chorrück-wand in Sonnenkamp und einer große Anzahl von Landkirchen in Mecklenburg-Vorpommern. Zu den Backsteinkirchen in Ostfriesland waren vermutlich die Verdener Ziegelmaurer Überbringer der Drei-fensterform. Nach der ersten Bauunterbrechung in Mariensee, die sich an der Baunaht zwischen Ost- und Mitteljoch feststellen lässt, wiederholte man keine Dreifenstergruppe mehr, sondern probierte neue architektonische Lösungen. Zudem erforderte die im Mitteljoch beginnende Zweistöckigkeit des Kir-cheninneren kürzere Fenster (Abb. 22, 26). Die damals auf beiden Seiten des Mitteljochs geschaffenen Lösungen sind jedoch nicht erhalten geblieben. Auf der Südseite, die schon im Mittelalter durch einen Klausuranbau verdeckt wurde, sind nach Plänen C.W. Hases die Bogenstellung der Konventempore eingebaut und damit alle Spuren der ursprünglichen Gestaltung beseitigt worden (Abb. 20). Die Nord-seite des Mitteljochs ist aufgrund eintretender Bauschäden schon 1729 durch den Anbau des großen Stützpfeilers verändert worden. Die mittlere Durchfensterung wurde verdeckt, und 1867 sind die noch freistehenden Fenster von Steffen weiteren Veränderungen unterworfen wurden. Von der ursprüngli-chen Gestaltung ist nur noch der Ziegelkreis der oben befindlichen Fensterrose vorhanden (Abb. 35).125 Da alles andere spurlos verschwunden ist, vermuteten die Kunsthistoriker Klasen/Kiesow und alle folgenden Autoren auch am Mitteljoch ehemals eine Dreifenstergruppe.126 Doch diese Annahme trifft nicht zu, Klasen/Kiesow berücksichtigten anscheinend nicht die überlieferten Zeichnungen der Bauaufnahme von 1844 (Abb.32, 32a). Zudem fallen alle Bemühungen, nach ihren Vorstellungen eine Rekonstruktion anzufertigen, unbefriedigend aus. Unabhängig davon kommen auch Roggatz und Lemke bei ihrer Bauuntersuchung zu dem Schluss, dass am Mitteljoch keine Dreifenstergruppe mehr vorhanden war. Die beiden heute vorhandenen Fensterbahnen, rechts und links vom großen Stützpfei-ler wurden nach den Plänen von C.W. Hase den Abmessungen der Fenster des Ostjochs angepasst, wodurch die Reste der ursprünglichen Fensterordnung ganz ausgelöscht wurden (Abb. 35, 41). In der Bauaufnahme von 1844 sind am Mitteljoch noch zwei der ursprünglichen vier Fenster-bahnen mit zwei Rundfenstern rechts und links vom Stützpfeiler zu sehen (Abb. 32, 32a). Die dazuge-hörigen zwei weiteren Fensterbahnen sind 1729 vom Stützpfeiler teilweise verdeckt und vermauert worden. Die Außenwand des Mitteljochs hatte also im unteren Bereich zwei mal zwei Fensterbahnen, über deren Mitte jeweils ein Vierpass-Rundfenster angeordnet war. Diese Gruppe wurde zentral im oberen Bereich von der großen Fensterrose abgeschlossen. Beim Umbau 1867 sind die Rundfenster herausgenommen worden, um die noch vorhandenen kleinen Fensterbahnen auf die heutige Größe erweitern zu können. Eines der beiden Vierpassmaßwerke ist als Blendfenster auf der Scheitelseite der Apsis über der Tür zur Sakristei wiederverwendet worden. Die damalige Beliebtheit von Fensterrosen zeigte sich am gesamten Bau der Klosterkirche Heisterbach, besonders an den Giebelseiten der Quer-schiffe; am westlichen sogar in Verbindung mit einer Dreifensterreihe (Abb. 9, 10). 122 BEINE 1986. 123 DEHIO 1967, S. 368. KUBACH/VERBEEK 1978. S. 369–377. 124 MÄKELT 1906, S. 99. 125 ROGGATZ /LEMKE 2001. Baubefund. 126 CLASEN/KIESOW 1957. S. 116.52 Abb. 32, 32a: Mariensee, Klosterkirche. Außen- und Innenansicht der Mitteljoch-Nordwand nach der Bauaufnahme von 1844, die den Zustand nach der Errichtung des Stützpfeilers im Jahre 1729 wiedergibt. Abbildung: Klosterkammer Hannover. Abb. 33: Lippstadt, Marienstiftskirche. Frühgotische Fenstergestaltung in Werkstein als negatives Maßwerk (Plattenmaßwerk), in ähnlicher Anordnung in Backstein am Mitteljoch von Mariensee ausgeführt. Foto: Andreas Sassen 2001. Mithilfe der Marienseer Zeichnungen aus der Bauaufnahme von 1844 gelingt es eine Rekon-struktion der mittelalterlichen Fensteranordnung anzufertigen (Abb. 36, 52, 53). Bisher zeigte sich, dass eine solche Fenstergruppierung wohl als Besonderheit der Backsteingotik nur in Mariensee ausgeführt wurde. In der architektonischen Entwicklung war sie eine Vorstufe zum Fens-termaßwerk und damit der Urtyp des großflächigen Maßwerkfensters in der späteren Gotik. Aufgrund der noch relativ geschlossenen flächigen Erscheinung und breiter Stege zwischen den Fensterbahnen wird es negatives Maßwerk oder Plattenmaßwerk genannt, weil die Öffnungen wie ausgestanzt er-scheinen. Die Entwicklung des Fenstermaßwerks bis hin zum Kathedralfenster ist anscheinend in Frankreich geschehen. Mäkelt führt frühe Entwicklungsstufen zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Werkstein an der Dorfkirche von Villers-Saint-Paul bei Creil an, wo im Chorbereich neben gestaffel-ten Dreifenstergruppen andere zwei- oder dreibahnige Fenster von Rundfenstern überkuppelt wer-53 den. 127 Heisterbach zeigte zu dieser Zeit keine Entwicklung in dieser Richtung, jedoch die Stiftskirche in Lippstadt (Abb. 33). Parallel versuchte man diese Anordnung wohl auch in Mariensee und erreichte eine relativ elegante Auflösung der Schildwandfläche – die Verfasser haben in ihrer Innenwand-Rekonstruktion sogar den Schritt zu einer fünften Fensterbahn gewagt (Abb. 53). Um die darüber lie-gende Gewölbelast abzufangen und über die Zwickel abzuleiten, führte man den Schildbogen mit mehreren Abstufungen wesentlich stärker aus, als zum Beispiel im Ostjoch. Das Prinzip dieses Schildbogens ist im Westjoch noch einmal wiederholt worden, doch für ein anderes Fenster. Letztlich blieb die Form der Wand-Fenstergestaltung in Richtung Maßwerk einmalig und beim Backstein ver-mutlich auf Mariensee beschränkt, denn Folgebauten oder Weiteren
Objektbeschreibung
Titel | Die Kirche des Klosters Mariensee |
Untertitel | 13.-16. Jh. |
Übergeordneter Titel | Beiträge zur Heimatgeschichte ; Band 17 |
Bandangabe | 1 |
Ort/Verlag | Solingen |
Erscheinungsjahr | 2016 |
Signatur | 18L6762-1 |
Katkey | 7040434 |
HBZ-ID | HT018928305 |
Katkey (Überordnung) | 7040433 |
HBZ-ID (Überordnung) | HT018928299 |
Typ | Image |
Dateiformat | image/jpg |
Rechteinformation | Rechte vorbehalten - Freier Zugang |
Beschreibung
Titel | Kirche Mariensee Teil I |
Typ | Image |
Dateiformat | image/jpg |
Rechteinformation | Rechte vorbehalten - Freier Zugang |
Volltext | 7 Inhaltsverzeichnis: Seite Das Zisterzienser-Nonnenkloster Mariensee….. ………………………….....9 Lage und Bedeutung Zur Geschichte des Nonnenklosters………………………………………….11 Verlegung eines bestehenden Konvents Die Ordenszugehörigkeit Zum Problem klösterlicher Frauenbewegungen innerhalb der Männerorden Der Stifter und seine Gründung – Verbindungen des Stifters nach Westfalen Zur Organisation des Klosterbaus …………………………………………...20 Einfluss aus dem westfälischen Marienfeld – Zur Entwicklung des Gewölbebaus Entwicklung frühgotischer Architektur am Rhein und in Westfalen Die architektonische Nähe der Marienseer Kirche zu Marienfeld Der Bau der frühgotischen Kirche in senkrechten Abschnitten Beschreibung des Kirchengebäudes ………………………………………....43 Der Backsteinbau des Klosters Mariensee – Bearbeitung der Ziegel Die äußere Erscheinung der Klosterkirche Das Innere der Klosterkirche………………………………………………..60 Die polygonale Apsis – Gebote des Ordens zur Bestattung in der Kirche Das Kirchenschiff – Die Nonnenempore Die Unterkirche – Die Unterkirche als Begräbnisraum Die frühe Gestaltung der Klosterkirche……………………………………..77 Ausmalung des Kirchenraums – Verglasung der Kirchenfenster Das romanische Kruzifix Kunstwerke der Spätgotik …………………………………………………...87 Hochaltar – Emporenaltar – Vortragekreuz – Chororgel Madonna – Taufstein – Kirchenschatz – Das Gebetbuch der Odilia von Alden Exkurs………………………………………………………………………...94 Die Ablassurkunde für Mariensee von 1312 Von Marienfeld und Mariensee sich verbreitende Einflüsse auf die Architektur Ostfrieslands Literatur……………………………………………………………………....968 9 Abb. 1: Mariensee, Zisterzienserinnen-Kloster. Die spätbarocke vierflügelige Klosteranlage von Süden mit der Abteikirche aus dem 13. Jahrhundert im Nordosten. Unten rechts außerhalb, die frühe sanitäre Anlage des Klosters. Luftbild von 1987, Archiv Kloster Mariensee. Das Zisterzienser-Nonnenkloster Mariensee Lage und Bedeutung Das Frauenkloster Mariensee liegt am Ortseingang des Dorfes gleichen Namens nordwestlich von Neustadt am Rübenberge in Niedersachsen. Es gehört neben Barsinghausen, Marienwerder, Wen-ningsen und Wülfinghausen zu den fünf Calenberger Klöstern, die als Eigentum des Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds von der Klosterkammer Hannover verwaltet werden. Das Klostergut Mariensee – gegenüber von Kirche und Konventgebäude – dient gegenwärtig wissenschaftlichen Zwecken und genießt als Institut für Tierzucht und Tierverhalten internationalen Ruf. Unweit des Leineufers am Rand ausgedehnter Waldungen gelegen, ist die imposante Stiftan-lage (Abb.1), bestehend aus einem spätbarockem Gebäudegeviert mit der frühgotischen Backsteinkir-che, ein reizvoller Anziehungspunkt für den Besucher des Calenberger Landes. Das ehemalige Zister-10 zienser-Nonnenkloster, eine der frühen Gründungen dieser Art in Niedersachsen, erlebte seine bedeu-tendste Zeit im Hochmittelalter und später in der Zeit des welfischen Absolutismus. Seit dem Jahre 1540 begann die Witwe des Herzogs Erich I. von Braunschweig-Lüneburg Elisabeth die lutherische Lehre im Calenberger Land einzuführen. Unterstützung bekam sie von dem aus dem Orden der Zister-zienser kommenden Reformator Antonius Corvinius, der eine evangelische Kirchen- und Klosterord-nung erarbeitete, wonach die Klöster nicht aufgelöst, sondern zur neuen Lehre umgewandelt wurden. 1 Das tägliche Gebet der Nonnen wurde beibehalten, römisch-katholische Zeremonien dagegen abge-schafft. Das Klostervermögen wurde von der Landesherrschaft nicht eingezogen, sondern sorgfältig inventarisiert und unter die Kontrolle der Regierung gestellt. Somit ist es ein Verdienst der Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen, den Grundstein für die spätere Entstehung des Allgemeinen Klos-terfonds gelegt zu haben, den heute die Klosterkammer Hannover – eine niedersächsische Landesbe-hörde – verwaltet.2 Der Sohn der Herzogin, Erich II., verfolgte 1545 mit seinem Übertritt zur katholi-schen Konfession zwar wieder eine gegenläufige Politik. Doch die reformatorischen Absichten seiner Mutter setzten sich nach seinem Tod 1584 letztlich durch, als 1588 die Erbfolge an seinen protestanti-schen Vetter Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel ging. Dieser führte in allen Klöstern die evangeli-sche Lehre verbindlich ein.3 Wie in seinem Stammland Wolfenbüttel verfügte er, dass auch in Calen-berg die Klöster samt ihrem Vermögen nicht eingezogen werden sollten und handelte im Sinne seiner verstorbenen Tante Elisabeth von Calenberg-Göttingen. Als Schatz dieser Lande zu erhalten, sie zu gottseligen Sachen zu gebrauchen und zu reformie-ren, nämlich zu Unterhaltung der Pfarren, zu Hospitälern, zu Knaben- und Mägdleinschulen, zur jähr-lichen Aussteuerung einiger armer Jungfrauen vom Adel.4 Als 1618 der Dreißigjährige Krieg ausbrach, hatte Mariensee schon zuvor wegen der hohen Abgaben, die es nach Wolfenbüttel leisten musste, beträchtliche Einbußen seiner Klosterwirtschaft hinnehmen müssen. Doch im Verlauf des Krieges mussten Haus und Konvent bis zur vollständigen Plünderung viel erdulden. Das Kloster verfiel zusehends und musste bis auf die Kirche im 18. Jahr-hundert neu errichtet werden, wobei man den Bau für 13 Konventualinnen in abgeschlossene Woh-nungen aufteilte. Mariensee ist der Geburtsort des Theologen und Dichters Ludwig Hölty (1748–1776), eines Mitglieds des Göttinger Hainbundes. Sein elegisches Lied Üb immer Treu und Redlichkeit wurde über die Grenzen des damaligen Königreiches Hannover weltweit bekannt. Nach Wandlungen und Anpassungen im Verlauf der vielen Jahrhunderte, in denen das Kloster ununterbrochen fortbestand, kommen heute in die Gemeinschaft alleinstehende Frauen, die sich bereits in der modernen Welt bewährt haben. Was sie im Kloster Mariensee zusammenführt, ist die Aufge-schlossenheit für die jahrhundertealte Tradition dieser Örtlichkeit und die Bereitschaft, deren Bedeu-tung für Menschen der Gegenwart neu ins Bewusstsein zu rücken. Dem Konvent der Stiftsdamen, denen nach einer Bewerbung von der Klosterkammer eine Klosterstelle verliehen wurde, steht eine Äbtissin vor. Zur heute regen Öffentlichkeitsarbeit Mariensees gehören Kirchen- und Klosterführun-gen sowie ein umfangreicher Katalog von Konzerten, Vorträgen, Ausstellungen und Kursen diverser Art im Jahreslauf. Die Gründung des Klosters Mariensee geht auf den Grafen Bernhard II. von Wölpe (1168–1221), ein Gefolgsmann Heinrichs des Löwen, zurück. Bis zur Wende zum 13. Jahrhundert hatte das sächsische Lehngrafen-Geschlecht mit dem Stammsitz Burg Wölpe in Erichshagen bei Nienburg ein Territorium zwischen Leine und Mittelweser aufgebaut.5 Dazu gehörte auch die Burg Landestrost an einem Leineübergang, aus deren bürgerlicher Ansiedlung die Stadt Neustadt am Rübenberge hervor-ging. Noch zum Ende des 12. Jahrhunderts traf die Grafenfamilie Vorbereitungen zur Gründung ei-nes Hausklosters, das sie an ihrem Haupthof Catenhusen bauen wollten und dem sie dann den Namen Mariensee gaben. Sinn und Aufgabe von Kirche und Kloster Mariensee waren ein geistiges Zentrum für das Herrschaftsgebiet Wölpe und eine Grablege seiner Grafen an einem geweihten Ort, wo bestän- 1 HAMANN/GRAEFE, Germania Benedictina 1994, S. 447. 2 SPERLING 1974. 3 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 447, 448. 4 BRENNEKE/BRAUCH 9. 5 DUENSING 1999. Graf Bernhard II. v. Wölpe 1168–1221, Landesherr der Grafschaft Wölpe, die sich nord-westlich von Neustadt am Rübenberge erstreckte. Bei Nienburg-Erichshagen lag der Stammsitz, Burg Wölpe. Die Grafschaft bestand bis 1302 und ging später im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg auf. 11 dig für das Seelenheil der Mitglieder des Herrscherhauses gebetet wurde. Eine genaue Zeitbestimmung der Klostergründung ging aus der Quellenlage bisher nicht hervor, sie gilt aber gleich zu Beginn des 13. Jahrhunderts als gesichert. Nach dem Willen des Stifters und des Bischofs von Minden sollte es ein Frauenkloster des Zisterzienserordens werden. Zudem beabsichtigten sie den Bau einer Kirche, die in ihrer Großartigkeit jedem Vergleich mit den Gründungen jener Zeit standhalten konnte. 6 Diese Kirche – ein hochragender Backsteinbau – ist allein aus der Gründungszeit erhalten ge-blieben. Sie ist zur Zeit ihrer Entstehung nicht nur ein absolutes Novum unter den Sakralbauten im Gebiet nördlich von Hannover, sondern auch im gesamten norddeutschen Raum gewesen. Ohne ein direktes Vorbild, das man im Westen am Rhein oder zwischen Rhein und Weser vermuten müsste, ist Mariensee im Mittelalter als vollendetes Ziegelbauwerk im frühgotischen Stil verschiedener Strömun-gen erstellt worden. Die mitten im romanisch geprägten sächsischen Gebiet urplötzlich auftretende fortschrittliche Bautechnik an der Kirche eines Frauenklosters steht mit Herkunfts- und Entstehungs-geschichte im Mittelpunkt dieser Arbeit. Zur Geschichte des Nonnenklosters Verlegung eines bestehenden Konvents Die Erwähnung einer Stätte mit der Bezeichnung Mariensee ist erstmals in einer Urkunde vom 27. November 1207 zu finden.7 Der askanische Herzog Albrecht von Sachsen beschenkt sie mit einer Mühle und drei Häusern vor der Düsselburg unweit Rehburg. Eine ähnliche Funktion wird der nicht datierten welfischen Förderung zukommen, die von dem ältesten Sohn Heinrichs des Löwen, Herzog Heinrich von Sachsen und Pfalzgraf bei Rhein wohl ebenfalls um oder vor 1207 gemacht worden war.8 Nach Ansicht der Autoren Hamann und Graefe bedeuteten die Schenkungen die Anerkennung einer geplanten Klosterstiftung durch die ersten Fürsten dieses Raumes. Man möchte daraus schließen, dass der Stifter sich früh welfischer Zustimmung vergewisserte.9 Die Ereignisse, die sich im Verlauf von acht Jahren aufreihen, lassen von 1207 an eine durchgehende Aktivität zum Aufbau einer Kloster-anlage vermuten. In der Fortsetzung der frühen Urkunden des Klosters Mariensee erfolgte am 19. September 1215 eine einvernehmliche Übereinkunft zwischen dem Grafen Bernhard II. von Wölpe, dem Bischof Konrad I. von Minden (1209–1237) und einem Frauenkonvent Vorenhagen.10 Es wurde angeordnet (ordinatum): Die Frau Äbtissin zieht mit dem ganzen Konvent der Frau-en und der Konversen (conversorum bzw. fratrum) nach Mariensee um und nimmt alle ihnen übertra-genen Besitzungen an Zehnten, Hufen und Villikationen mit. Ausgenommen bleibt die Villikation Vo-renhagen mit dem zugehörigen Eigenwald, also die alte Wohnstätte des Konvents mit ihrer Bewirt-schaftung, die mit ihren Rechten an Bischof Konrad zurückfällt, wie sie Bischof Dietmar (1185–1206) besaß. Zur kirchlichen Rechtsstellung des neuen Klosters wird gesagt, dass es mit all jenen Rechten, welche die Ordensregel einem Bischof überlässt, der Mindener Kirche unterworfen sein soll. In der weltlichen Ordnung soll es sich aber niemandes Herrschaft unterstellen, es sei denn mit bischöflicher Zustimmung, was einen Verzicht des Grafen von Wölpe auf die Vogtei bedeutete.11 Mit der Verlegung eines bereits bestehenden Konvents zu einem neuen Klosterort gehörte das Kloster Mariensee zu den nicht seltenen Fällen, bei denen die Formierung eines Konvents schon vor Bezug der endgültigen An-lage erfolgte. Der ursprünglich genannte Konvent – eine klösterliche Frauengemeinschaft Vorenhagen – war noch während der Amtszeit des Mindener Bischofs Dietmar (1185–1206) gegründet worden und be-stand während der Zeit Bischof Heinrichs (1206–1209). Die Bezeichnung einer bischöflichen Stätte, Siedlung oder Kloster mit dem Namen Vorenhagen ist aber nach der Gründung Mariensees nicht mehr 6 WÄTJEN 1970, S. 2. Der Autor nennt leider nicht die Quelle. 7 CALENB. UB 5, Nr. 2. 8 CALENB. UB 5, Nr. 1. 9 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 441–442. 10 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 439. 11 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 438, 439. CALENB. UB 5, Nr. 6 u.7 = WUB 6, Nr. 63 u. 64. 12 eindeutig zu lokalisieren. Die bisherige Geschichtsforschung nennt mehrere Möglichkeiten. So wird zunächst eine Wüstung Warnhagen genannt, die in der Stadt Neustadt aufgegangen sein soll. Die zweite Theorie gilt einem Hof in der Gemeinde Gilten an der Straße Gilten-Nienhagen-Rodewald. Der Mindener Bischofschronist Hermann von Lerbeck berichtet dagegen von einem Kloster, das auf dem Wittekindsberg bzw. Margarethenberg oberhalb Porta-Westfalica gegenüber Hausberge fundiert wor-den ist. Es sei dann nach einem Waldstück Vorenhagen beim Ort Todtenhausen zwischen Minden und Petershagen auf das linke Weserufer verlegt worden, wo es zwei Jahre blieb. Hamann/Graefe verwei-sen schließlich auf die Hagenhufsiedlung Vornhagen im Kirchspiel Propsthagen bei Stadthagen, die im bischöflichen Besitz war und deren Name allein auch in der Folgezeit noch mehrfach genannt wird. So verfügt der Bischof darüber 1269, 1274, 1299 und 1306, als er Güter u. a. in Vornhagen bzw. Va-renhagen an Adlige verpfändet. 12 Auch hier bestand die Möglichkeit, dass ein Vornhagen bei Stadthagen die erste Heimstätte des späteren Marienseer Konvents war. Neuere Erkenntnisse weisen wiederum in den Raum Gilten und Nienhagen, wo in Luftbildaufnahmen an der Erdoberfläche angeb-lich Fundamentlinien einer Anlage mit einem größeren Bau (Kirche?) erkennbar waren.13 Nach sicherlich schon längerer Anlaufphase gab es spätestens seit 1207 einen konkreten Plan, dem Vorenhagener Konvent am Wölper Besitz Catenhusen eine neue Heimstatt unter der Bezeichnung Mariensee zu errichten. Dieses muss unter dem Hauptstifter Bernhard II. von Wölpe bis September 1215 soweit verwirklicht worden sein, dass die Frauen umziehen konnten. Die Mindener Bischof-schronik des Dominikaners Hermann von Lerbeck (†1400) berichtet übereinstimmend mit den ge-nannten Urkunden, dass auf Veranlassung des Grafen Bernhard das Kloster Mariensee am 19. Sep-tember 1215 dorthin verlegt worden sei, wo es sich jetzt noch befindet.14 Der Verlegung folgte drei Monate später – am 27. Dezember 1215 – der rechtliche Abschluss der Klosterstiftung. Graf Bernhard II. von Wölpe ließ die Stiftung des Klosters Mariensee von einem Notar urkundlich festhalten, wobei seine Gattin, drei Töchter und Schwiegersöhne ihre Zustimmung bekundeten. Der damit verbundene Schenkungskatalog, die von anderen Seiten erfolgten Zuwendun-gen und Stiftungen sowie die Zusammenlegung des Besitzes des Konvents Vorenhagen mit dem von Mariensee stellte das neue Kloster nun auf eine wirtschaftliche Basis.15 Die Urkunde vom 27. Dezember 1215 berichtet aber auch von der Gründung einer Kirche zur Ehre Gottes, der gebenedeiten Jungfrau Maria, des heiligen Evangelisten Johannes und aller Heili-gen.16 Im Urkundentext ist von einer Weihe der Kirche zwar keine Rede, doch da sie auch später nicht mehr genannt wird, könnte die Erwähnung der Heiligen zu diesem Zeitpunkt gleichbedeutend mit der Weihe der Kirche gewesen sein. Die Nonnen hatten somit einen geweihten Raum für die Messfeier, auch wenn nur ein Teil der Klosterkirche mit ihrem Altar fertiggestellt war. Nach Kimpel/Suckale erhielten bei der Weihe Altar und Kirchenraum jeweils ein Patrozinium, d.h. sie wurden einem oder mehreren Titelheiligen unter Einfügung ihrer Reliquien geweiht. Diese feierliche Handlung erfolgte grundsätzlich vor ihrer Ingebrauchnahme, zumeist unter Anwesenheit hoher geistlicher und adliger Würdenträger, was in Mariensee nach den Unterzeichnern der Urkunde am genannten Stiftungstag gegeben war. Die feierliche Schlussweihe konnte dagegen lange nach Abschluss der Arbeiten erfol-gen.17 Es ist also nicht auszuschließen, dass der 27.12.1215 mit der Nennung der Gründung und des Patroziniums der Klosterkirche auch die Weihe des bis dahin fertiggestellten Teils der Kirche gemeint war. 12 HAMANN / GRAEFE 1994, S. 441. 13 Freundliche Auskunft von Herrn Eberhard Doll, Vechta, der sich auf Erkenntnisse des Historikers Bernd Ul-rich Hucker bezieht. Veröffentlichungen darüber sind jedoch nicht bekannt. 14 HAMANN / GRAEFE 1994, S. 440. 15 HAMANN /GRAEFE 1994, S. 438, 439. CALENB. UB. 5, Nr. 7. 16 CALENB. UB 5, Nr. 6 u. 7. S. 11-16. (WUB 6, Nr. 63 u. 64.) 17 KIMPEL/SUCKALE 1985, S. 555.13 Die Ordenszugehörigkeit Das Kloster Mariensee nennt sich seit seiner Gründung dem Orden der Zisterzienser zugehö-rig. Zwischen den Zeilen der Überlieferungen finden sich reichliche Hinweise, dass die Entscheidung für eine strengere Observanz als Benediktiner oder Augustiner offensichtlich schon in den Anfängen getroffen wurde. So wurden 1215 beim Umzug von Vorenhagen sowohl ein Konvent mit Äbtissin als auch Konversen genannt, Begriffe, die auf den Orden der Zisterzienser hindeuteten. Außerdem ver-sprach der Bischof die Ordensstatuten nicht zu verletzen, eine Grundvoraussetzung der Zisterzienser ohne Einfluss des Bischofs ein Kloster einzurichten, womit vieles auf eine Hinwendung zu den Regeln von Cîteaux deutet. Die Stifterfamilie nennt in ihren Urkunden zum Kloster Mariensee stets die Zuge-hörigkeit zum Zisterzienserorden. In einer Urkunde von 1231 erfahren wir erstmals amtlich vom Mindener Bischof Konrad, dass Mariensee zum Zisterzienserorden gehörte.18 Ebenso wird 1251 Mari-ensee als Kloster des grauen Ordens bezeichnet.19 Unbedeutend ist dagegen, dass 1260 die Nonnen im Ablass des Erzbischofs Engelbert II. von Köln einmal Benediktinerinnen genannt werden.20 Abgesehen von Kloster Wöltingerode bei Vienenburg, das schon vor 1188 als Filiation von Münster von dem Grafen Wöltingerode-Wohldenberg gegründet worden war, entstand mit Mariensee um 1207 vorbildhaft eines der ältesten Nonnenklöster in Niedersachsen nach den Regeln der Zisterzi-enser. Wahrscheinlich eröffneten damit die Gründer Mariensees die Reihe der zahlreichen Nonnen-klöster in Niedersachsen und folgten damit einem religiösen Zeittrend des 13. Jahrhunderts.21 Die Aufgaben der Nonnen in der Fürbitte, ihre Pflicht zur Teilnahme am täglichen Messopfer und an den vielen Stundengebeten war die Regel und ließ ihnen kaum Zeit selbst etwas in die Hand zu nehmen. Deshalb standen Ihnen zur Seite die Laienschwestern, ebenfalls unter einem Gelübde, aber durch we-niger Chordienst für praktische Arbeit freigestellt. Für Konvent, Bischof und Stifter wird sich früh die Frage nach der Ordenszugehörigkeit ge-stellt haben, weil diese den zukünftigen Weg des Klosters vorzeichnete und alle folgenden Entschei-dungen davon abhängig waren. Arbeitete man auf das Ziel hin, in den Zisterzienserorden aufgenom-men zu werden, musste man sich im vorauseilenden Gehorsam an die strengen Regeln des Ordens halten. Dies war nicht nur für das Zusammenleben der Nonnen wichtig, sondern für alle Dinge des neuen Klosters ausschlaggebend. Die Regeln betrafen auch den Stifter Graf Bernhard von Wölpe, der mit der Gründung der weiblichen Ordensniederlassung die Voraussetzungen für einen funktionieren-den Klosterbetrieb zu schaffen hatte. Deshalb mussten seine Stiftungsdotationen in vieler Hinsicht reichlich bemessen sein. Es sollten nicht nur Gebäude zum Leben und Schlafen sowie eine Kirche vorhanden sein, sondern auch für den Unterhalt aller im Kloster musste gesorgt sein. Dazu waren Ländereien in ausreichender Zahl und Größe notwendig, deren Bewirtschaftung so organisiert war, dass die Erträge zunächst zur Ernährung des gesamten Klosterbetriebes ausreichten. Darüber hinaus sollten Überschüsse erwirtschaftet werden, damit durch Verkauf Geldmittel ins Kloster zurückflossen, um kostenpflichtige Ausgaben leisten zu können. Selbst wenn in den ersten Jahren durch Spenden und Stiftungen alles zum Anschub des Klosterbetriebs getan war, musste sich seine Lebensfähigkeit nach Ausbleiben weiterer Stiftungen erst herausstellen. Den Nonnen blieb das Problem, für alle Bauvorha-ben oder Bauunterhaltungen nicht auf eigene Kräfte zurückgreifen zu können, sondern stets auf be-zahlte Handwerker angewiesen zu sein. Ein ständiger Ausgabenposten war der Unterhalt der Kleriker im Kloster. Zu ihnen gehörte ein Propst, der dem Kloster mit geistlichen sowie verwaltungstechni-schen Aufgaben vorstand und dem mehrere assistierende Priester unterstanden.22 Ihre Aufgabe war es, neben dem Stundengebet der Nonnen im Kloster die heilige Messe zu feiern, um den vollständigen 18 WUB 6, Nr. 1026, 1627, WUB 10, Nr. 155 u. 179. 19 HERMANN V. LERBECK, S. 173. 20 HAMANN / GRAEFE 1994, S. 445. CALENB. UB 5, NR. 70. 21 Bersenbrück 1231; Börstel 1246; Braunschweig, Kreuzkloster, seit 1406 für Zisterzienserinnen; Derneburg, seit 1442 für Zist.; Himmelpforten bei Stade 1255; Höckelheim bei Northeim 1247; Isenhagen, Lüneburger Hei-de seit 1265 für Zist.; Lesum 1238, Lilienthal 1232; Mariengarten 1245; Mariensee gegr. vor 1207 in Vorenha-gen; Medingen 1241; Meerhusen bei Aurich 1219; Osterode, Harz 1243, Rinteln seit 1267 Zist.; Rulle, gegr. 1230 in Harste; Wiebrechtshausen bei Northeim vor 1240. Wienhausen 1221; Wöltingerode vor 1188. (Heutger) 22 DOLL 2008, Doll vermutet, dass anfangs neben dem Propst bis zu acht Priester im Kloster waren.14 Verpflichtungen des Totengedenkens gegenüber den Stiftern nachkommen zu können. Darüber hinaus hatten sie die Beichte zu hören und die seelsorgerische Betreuung der Nonnen zu leisten. Zum Problem klösterlicher Frauenbewegungen innerhalb der Männerorden Nach Forschungen von Nicolaus Heutger musste die religiöse Frauenbewegung des Hochmittelalters von der zisterziensischen Spiritualität voll erfasst gewesen sein. Der weibliche Zweig des Ordens war bereits 1132 in Frankreich durch Elisabeth de Conzy gegründet worden. Nach Mariensee zu Beginn des 13. Jahrhunderts folgen bis 1260 nicht weniger als 13 weitere Nonnenklöster im niedersächsischen Raum. Allerdings entspricht der nie-dersächsische Befund erstaunlich genau dem in anderen Gebieten Deutschlands.23 Die Aktivität dieser frühen Frauenbewegung wurde aber von den etablierten Männerorden keinesfalls positiv gesehen. Die Einrichtung weiblicher Zweige war von den Spitzen der meisten Orden aus bestimmten Gründen nicht erwünscht und konnte oftmals nur gegen Widerstand durchgesetzt werden. Dies galt besonders für die Zisterzienser, wo Frauenklöster, die die zisterziensischen Lebensgewohnheiten annahmen, vergeblich um Anschluss an den Orden ersuchten. Gerade in der Gründungswelle von 1200–1250, eben der Zeit von Mariensee, versuchte das Generalkapitel von Cîteaux von Anfang an mit hohen Auflagen die Bildung neuer Konvente zu erschweren. Es begegnete dem Bestreben mit dem 1220 erstmals erlassenen und 1228 nochmals verschärften strikten Aufnahmeverbot für Nonnenklöster in den Gesamtorden. Als diese Maßnahmen nicht ausreichten, be-schloss man in Cîteaux 1244, dass die Inkorporation eines Klosters den Verzicht des Diözesanbischofs auf seine Rechte voraussetze. Und diese Bedingung war äußerst schwer zu erfüllen. Letztlich reagierte das Generalkapitel wohl mit Gleichgültigkeit. So ordnete es zwar nach dem Ersuchen Papst Gregors IX. 1241 beim Kloster Medin-gen eine Inspectio, also die eingehende Besichtigung an, doch in der Folgezeit erscheint Medingen nie mehr in den Statuten. Auch in Wienhausen hört man im Jahre 1244 von einer Inspectio, und wieder ist hohe Protektion nachweisbar. Der Herzog von Braunschweig hatte beantragt, das Kloster dem Orden zu inkorporieren. Dann aber kommt Wienhausen nie wieder in den Statuten des Generalkapitels vor. Offenbar sollte mit der zunächst entge-genkommenden Behandlung einzig der päpstlichen, bzw. der herzoglichen Bitte Genüge getan werden. Auch bei allen anderen Frauenklöstern ergibt sich allgemein das merkwürdige Bild, dass sie in den Generalkapitel-Statuten nicht erwähnt werden. Das Kloster Lilienthal bei Bremen, das man als einziges Zisterzienserinnenklos-ter dem Orden zugehörig betrachtet, erscheint 1258 mit einer Inspectio durch Loccum und Marienthal und dann im 15. Jahrhundert im Verzeichnis derjenigen Nonnenklöster, die den Äbten von Cîteau und Clairvaux direkt unterstellt sind. So müsste man eigentlich Lilienthal als dem Orden inkorporiert ansehen, doch sind auch hier Zweifel angebracht. Im Register des 15. Jahrhunderts sind süddeutsche Äbte als Visitatoren angegeben, so dass wahrscheinlich ein anderes Kloster Lilienthal gemeint war. Daraus ergibt sich, dass die niedersächsischen Zisterzienserinnenklöster mehr oder weniger – das Ver-bot des Privateigentums wurde besonders gern umgangen – der Ordensgesetzgebung folgten. Sie nannten sich oft und gern Mitglieder des Zisterzienserordens, gehörten rechtlich aber nicht dazu. Im Laufe ihrer Geschichte genossen sie aber hin und wieder eine gewisse Betreuung durch Zisterzienseräbte. Dagegen waren die für die Organisation wichtigen Pröpste der Frauenklöster keine Zisterzienser.24 Die weiblichen Gemeinschaften hatten also Kleriker und Verwalter, die aus der Klosterwirt-schaft ernährt und finanziert werden mussten. Ein weiterer wirtschaftlicher Nachteil gegenüber den Mönchsklöstern, deren eigene Kräfte zur Messzelebration sowie Verwaltung keine zusätzlichen Kos-ten verursachten.25 Aus den Erfahrungen heraus, dass seit der ersten weiblichen Klostergründungen in Frankreich nach 1132 oftmals die Voraussetzungen aus wirtschaftlichen Gründen nicht erfüllt waren und die Stiftungen daraufhin kläglich scheiterten, riet das Generalkapitel des Ordens grundsätzlich von den Gründungen der Nonnenklöster ab. Man sah wahrscheinlich auch die katastrophalen sozialen Fol-gen für die Frauen, die damals in großer Zahl in die neuen Klöster strebten, ihre Mitgift einbrachten und bei einem endgültigen Aus unversorgt vor dem Nichts standen. 23 KUHN-REHFUS 1980, S. 125. 24 HEUTGER 1993, Zusammenfassung aus: Zisterzienser-Nonnen im mittelalterlichen Niedersachsen, S. 57–61. 25 KRÜGER, S. 258.15 Der Stifter und seine Gründung Niederschriften über den Bau von Kirche, Klausur und Wirtschaftsgebäuden der Klöster sind allgemein in den Stiftungsbüchern und frühen Urkunden kaum zu finden. Nach Matthias Untermann war es bis ins 13. Jahrhundert üblich, die Gründungszeit zumeist recht detailfreudig darzustellen, zum Bau der monumentalen Klosterkirchen und der großen Klausurbauten schweigen dann die Quellen und liefern bestenfalls Andeutungen über Grundsteinlegungs- oder Weihedaten. Ein Sonderfall war dabei schon die große hölzerne Stiftertafel des Klosters Dargun, die bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten war. Sie zeigte alle Stifternamen mit geleisteten Geldbeträgen zum Neubau von Kirche und Teilen der Klausur. 26 Auch im westfälischen Marienfeld legte man 1988 eine schon im 14. Jahrhundert vermau-erte Memorialtafel frei, die mit den Namen der Stifter Gewissheit über die früheste Vergangenheit des Klosters gab.27 In Bezug auf das Frauenkloster Mariensee gibt es zwar eine Reihe von frühen Urkunden, die allerdings nur geringe, wenig präzise Informationen über den Bau der Klosteranlage liefern. Vor allem über die Entstehungsgeschichte der Kirche wissen wir sehr wenig. Es bleibt, zuweilen zwischen den Zeilen der Urkunden zu lesen und den Hinweisen nachzugehen, die die Bauforschung aus den Spuren an der mittelalterlichen Klosterkirche liefert. Sie müssen für ein Gerüst reichen, dass mit Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten sowie Erfahrungen aus anderen Zisterzienserinnenklöstern zu einem Bild vervollständigt wird. Von Mariensee ist anhand der frühen Urkunden überliefert, dass der Hauptstifter der Landes-herr Graf Bernhard II. von Wölpe war. 28 Eine Klosteranlage zu Beginn des 13. Jahrhunderts in einem eher unzugänglichen Land aus dem Boden zu stampfen, war für den Gründer eine Herkulesaufgabe. Anscheinend stellte sich Bernhard von Wölpe diesen Herausforderungen, galt es doch, nach dem Trend der Zeit den landespolitischen Erfolgen das Werk einer frommen Stiftung hinzuzufügen. Die dafür nötigen erheblichen Mittel stellte er bereit, indem er weitere Stifter für die Sache gewinnen konnte; letztlich waren es umfangreiche Summen, die viele andere Ritter und Landesherren damals in Ausrüstung und Unterhalt zur Teilnahme an einen Kreuzzug steckten.29 Beim Bau der Klosteranlage orientierte sich der Graf von Wölpe an Vorgaben, die im Verlauf des 12. Jahrhunderts vom Zisterzien-serorden entwickelt worden waren. Als adliger Klostergründer und Hauptstifter begab er sich in die Pflicht, nicht nur für die Grundausstattung des Klosters zu sorgen, sondern auch für die erforderlichen Bauten zur Unterbringung der Nonnen, Laienschwestern sowie Knechte und Mägde aufzukommen. Deshalb standen dem Konvent umfangreiche Besitzungen und die ihrer Größe für den täglichen Be-darf angepasste örtliche Ökonomie Catenhusen zur Verfügung.30 Die Zisterzienser haben die Existenz einer funktionsfähigen, mehrräumigen Klausur – und sei es in primitivster Form – bekanntlich zur Vorbedingung für die Aussendung eines Gründungskonvents gemacht.31 Für Frauenklöster setzte der Orden sogar voraus, dass die Nonnen fertige Klostergebäude beziehen konnten und nicht mehr mit den Bauleuten in Berührung kamen.32 Unter den historischen Namensformen zu Mariensee nennen Hamann/Graefe als früheste Bezeichnung Ecclesia Vornhagin.33 Nach der Nennung einer Ecclesia stand dem nach Mariensee umgezogenen Konvent allem Anschein nach bereits in seinem alten Heimatort Vorenhagen eine Kirche zur Verfü-gung. Dies lässt vermuten, dass mit dem Umzug nach Mariensee kein Rückschritt verbunden war und der Graf von Wölpe die Zeit von 1207 bis 1215 zur Errichtung von Konventbauten und Kirche genutzt hatte. Eine fertige Klausur bestand aus Aufenthalts- und Speiseraum, Schlafsaal, Gästehaus, Kranken-station und Kreuzgang. Der Stand der Dinge kann für Ende 1215 zwar nur vermutet werden, jedoch 26 UNTERMANN 2001, S. 193. 27 STROHMANN 1994, S. 210–250. 28 DUENSING 1999: Graf Bernhard II. v. Wölpe 1168–1221, Landesherr der Grafschaft Wölpe, die sich nord-westlich von Neustadt am Rübenberge erstreckte. Bei Nienburg-Erichshagen lag der Stammsitz, Burg Wölpe. Die Grafschaft bestand bis 1302 und ging später im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg auf. 29 Bernhard II. von Wölpe hat am Kreuzzug Friedrichs I. Barbarossas 1189–1192 nicht teilgenommen. 30 Eine Liste mit der Aufzählung der Besitzungen Mariensees in einer großen Anzahl von Orten ist aufgeführt in den Bau- und Kunstdenkmalen des Kreises Neustadt a. Rbge. 1976, S. 144. 31 UNTERMANN 2001, S. 196. 32 KUHN-REHFUS 1980. 33 Die Urkunde ist nicht datiert, wird aber vor 1207 angenommen. HAMANN/GRAEFE 1994, S. 438.16 unabdingbar war für den Tagesablauf des Konvents eine geweihte Kirche. 34 Die Weihe eines östlichen Kirchenteils mit seinem Altar war Vorbedingung, um das Messopfer feiern zu können. Selbst wenn die Bautätigkeit weiterging, musste das siebenfache Chorgebet ebenso regelmäßig gehalten werden, wie die tägliche Konventsmesse.35 Das liturgische Officium des Konvents durfte weder in der Grün-dungszeit noch während späterer Um- oder Weiterbauten unter den notwendigen Arbeiten leiden. Dem Marienseer Kirchenheiligtum bestehend aus Apsis und Ostjoch kam zwar später die Aufgabe des Chorraumes für die Priesterschaft zu (liturgischer Chor), er konnte aber zunächst dem Konvent als vorübergehender Gottesdienstraum dienen (Abb. 21). Ein Beispiel zu solch einer Situation liefert der Abt Johannes Harlsen von Marienrode (1406-26). Bei Arbeiten in der Kirche ließ er ersatzweise im Dormitorium auf einem Tragaltar vier Jahre lang die heilige Messe feiern.36 Bei diesem und anderen Beispielen bezieht sich Untermann zwar auf die Ver-fahrensweise bei Männerkonventen, es ist jedoch kaum anzunehmen, dass bei einem Nonnenkloster anders vorgegangen wurde. Ein Merkmal einer beim Umzug 1215 bereits bestehenden Klosterkirche könnte die 1217 da-rin vorgenommene Beisetzung des Edelherrn von Brüninghausen, vermutlich ein Verwandter der Fa-milie Wölpe oder ein Mitstifter des Klosters, gewesen sein.37 Hamann und Graefe nehmen an, dass vier Jahre später auch der Hauptstifter Bernhard von Wölpe in der Klosterkirche beigesetzt wurde. Tatsächlich bleibt sein Begräbnisort unerwähnt. Einzig die Urkunde Ysos von Verden, der zum Tode seines Bruders dem Kloster zwei Höfe und die Kirche in Kirchwehren stiftete, lässt dies vermuten.38 Die Beerdigungen, die nach den Wünschen der Stifter möglichst am Altar in der Nähe der heiligen Reliquien geschehen sollten, setzten voraus, dass auch ein konsekrierter Altar vorhanden war und der Kirchenraum zumindest an dieser Stelle keine Baustelle mehr war, um die Totenruhe einzuhalten und die Fürbitten der Nonnen am Grab zu gewährleisten. Das Generalkapitel des Zisterzienserordens stand zwar noch lange nach diesem Zeitraum Beisetzungen von Stiftern im Kirchenraum sehr kritisch ge-genüber. In den Frauenklöstern scheinen diese Dinge jedoch nicht so eng gehandhabt worden zu sein, zumal die räumliche Nähe des Kirchengrabes zur Empore der Nonnen der Fürbitte um das Seelenheil der Stifter entgegenkam. Nach Erkenntnissen Untermanns ist es jedoch höchst problematisch, aus dem Todesdatum und der Beisetzung eines Stifters darauf zu schließen, dass der Altarraum benutzbar oder gar die Kirche fertiggestellt waren. Die Entscheidungen für oder gegen die Beisetzungen in einem neugegründeten Kloster waren eher von der Einschätzung seiner Zukunftsaussichten abhängig als von fertiggestellten Gewölben.39 Ganz sicher werden – wie Untermann hinzufügt – provisorische Bestattungen seltener überliefert als notwendig gewesen sein. Auch für Mariensee wird der plötzliche Tod des Grafen Wölpe bei Auseinandersetzungen in Friesland 1221 eine herbe Zäsur gewesen sein.40 Die vergangene Zeit seit 1207 erscheint jedoch aus-reichend, unter normalen Umständen und bei der Größe der Kirche bestimmte Bauaufgaben abzu-schließen, zumal der gotische Baubetrieb die Bauzeiten erheblich verkürzte. Die Stiftung Bischof Ysos von Verden für Kirche und Kloster lässt darauf schließen, dass die Finanzierung von Baumaterial und Arbeitskräfte wahrscheinlich gesichert und somit die Zukunftsaussichten positiv waren. Zum Vergleich steht die etwa zeitgleiche Erbauung der monumentalen Zisterzienserkirche He-isterbach, damals die größte Kirche des Rheinlandes. Dort wurden Sanktuarium und Querschiff 25 Jahre nach Baubeginn geweiht (1227). Im gotischen Baubetrieb wurde nur zehn Jahre später das noch wesentlich größere Langhaus vollendet.41 34 Eine Bestätigung dieser Gründungspraxis liefert Kloster Amelungsborn bei Holzminden, das 1129 als Stiftung des Grafen Siegfried von Northeim durch Papst Honorius II. bestätigt wurde. Der vollständige Zisterzienser- Konvent ist aus dem Kloster Altenkamp erst 1135 in die fertiggestellten Gebäude eingezogen. 35 UNTERMANN, S. 195. 36 UNTERMANN 2001, S. 201. 37 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444. 38 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444, 452. Calenb. UB 5, Nr. 11. 39 UNTERMANN 2001, S. 195. 40 DÜNSING 1999, Bernhard II. von Wölpe kam wahrscheinlich bei der Verteidigung eines Burgbesitzes in Friesland gegen den Bremer Erzbischof um. 41 UNTERMANN 2001, S. 205.17 Verbindungen des Stifters nach Westfalen In der Klosterkirche Mariensee gibt es bis heute, selbst nach vielen Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte, architektonische Merkmale, die auffallend mit der Kirche von Marienfeld überein-stimmen. Aufgrund der relativ nahen zeitlichen Baufolge beider Kirchen (Marienfeld nach 1185 - Mariensee nach 1207), ist ein Einfluss des westfälischen Zisterzienserklosters wahrscheinlich. Dieser könnte auch auf persönliche Verbindungen zurückgehen, die zurzeit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zwischen den heutigen Regionen Niedersachsens und Westfalens vorhanden waren. Grundsätzlich prägend für ihr Gebiet und gut vernetzt waren die Oberhirten der betreffenden Bischofs-sitze. In Münster residierte Hermann II. von Katzenelnbogen 1173–1203, Mitbegründer und Spiritus rector des Zisterzienserklosters Marienfeld, zeitlicher Kanzler Friedrich I. Barbarossas (Abb. 3). In Minden folgte auf Heinrich (1206–1209) Konrad I. (1209–1237) im Bischofsamt. Besonders Konrad schien eng mit dem Münsterland verbunden, denn er ließ um 1210 die Ostteile seines Doms in rhei-nisch-westfälischen Formen neu erbauen. Die davon erhaltene Vierung und die Querarme mit den typischen Domikalgewölben erinnern unwillkürlich an die Bauweise nach Plänen Marienfelder Bau-mönche.42 Konrad war einer der vielen hochrangigen Kleriker, die am 4. November 1222 bei der Wei-he der vollendeten Klosterkirche Marienfeld zugegen waren.43 In Verden an der Aller regierte Yso von Wölpe 1205–1231 als ein in der Geschichte hervortretender Bischof (Abb. 2). Auch er wird mit den westfälischen Kirchenfürsten in Verbindung gestanden haben, doch darüber hinaus war Yso ein Bru-der des Marienseer Stifters Graf Bernhard II. von Wölpe. Als Familienangehöriger wird er am Gelin-gen der Neugründung Mariensee interessiert gewesen sein.44 Den Landesherrn Graf Bernhard II. von Wölpe dürfte ein kameradschaftliches Verhältnis mit dem gleichaltrigen lippischen Edelherrn Bernhard II. verbunden haben.45 Beide hatten Herzog Hein-rich den Löwen in seinen Auseinandersetzungen mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa im Sächsischen Krieg als Heerhaufenführer unterstützt.46 Nach Hamann/Graefe hat der Wölper Graf vermutlich dem Sachsenherzog auch als Diplomat wertvolle, zugleich einträgliche Dienste geleistet. Den Chroniken des Arnold von Lübeck und des Gerhard von Steterburg zufolge, nahm Bernhard von Wölpe zwischen 1180 und den 1195 eingetreten Tod Herzog Heinrichs an Gefechten, Belagerungen und Verteidigun-gen unerschütterlich auf welfischer Seite teil. Wenn andere vom Herzog abfielen, blieb er allein treu, sagt der Abt Arnold von Lübeck. Vom Kreuzzug Barbarossas hielt er sich fern, sei es aus Anhänglichkeit an das Welfenhaus, sei es aus kluger Vorsicht. Gelegentlich taucht er im Gefolge des Mindener Bischofs auf, der ihm den Schutz des Klosters Nendorf anvertraute. Von seiner persönlichen Integrität und seinem Ansehen spricht schließlich ein Urteil des Hildesheimer Bischofs Hartbert. Der schildert ihn 1201 als einen Mann, der in den staufisch-welfischen Wirren mit unwandelbarer Treue den Bischof unterstützt habe. In solchen Zeiten habe er einen so beschaffenen Mann als Trost empfunden, den er wegen seiner Kriegserfahrenheit und seines überdurchschnittlichen Glaubens für den bewährtesten halte. Infolgedessen verwandelt er alle ihm übergebenen Hildesheimer Lehen in Weiberlehen.47 Bernhard II. von Wölpe war demnach ein Mann von überdurchschnittlichem Format, und die positiven Aussagen seiner Kirchenfürsten verhalfen vermutlich dazu, dass ihm trotz seiner Parteinah-me nach der Niederlage Herzog Heinrichs 1180/81 sein Besitz erhalten blieb. Als ehemaligen Ge-folgsmann des sächsischen Herzogs hätte unter den veränderten Machtverhältnissen durchaus ein To-talverlust geschehen können, wie das Schicksal seines Kriegskameraden Bernhard II. zur Lippe und zwei weiteren Anhängern Heinrichs des Löwen, Widukind von Rheda und Lüdiger von Wöltingerode-Wohldenberg zeigte. 42 Chor, Vierung und Querschiffarme in Minden ähneln mit ihren Wölbungen dem Bau Marienfelds. 43 BÖHMER/LEIDINGER 1998, S. 34. LEIDINGER 1999, S. 13. 44 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444, 452. Calenb. UB 5, Nr. 11. 45 LEIDINGER 1999, S. 13. 46 Graf Bernhard II. von Wölpe (1168–1221), Edelherr Bernhard II. zur Lippe (1167 †1224 als Bischof von Sel-burg/Livland), Herzog Heinrich der Löwe (1129-1195), Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122-1190). 47 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 444.18 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 2: Verden, Andreaskirche, gravierte Messinggrabplatte des Bischofs Yso von Verden (1205-1231). Dem aktiven Bau-herrn von Kirchen und Befestigungen in Verden kommt eine Schlüsselstellung bei der Gründung und Erbauung von Kloster und Kirche Mariensee zu. Zeichnung aus: Wenner, Kunstdenkmälerinventare Niedersachsens, Hannover 1980. Abb. 3: Marienfeld, Klosterkirche, Grabplatte des Bischofs Hermann II. von Münster (1173–1203). Hermann II. (von Kat-zenelnbogen) hatte als Kanzler Barbarossas europaweite Verbindungen, war Mitbegründer Marienfelds und eifriger Förderer des Baues der Klosterkirche sowie der Verbreitung ihrer Architektur in seinem Bistum. Foto: A. Sassen 2001 Nach heutigem Stand der Forschung Paul Leidingers blieb Bernhard II. zur Lippe zunächst bei Heinrich dem Löwen und folgte ihm ins Exil zu dessen Schwiegervater, dem englischen König Hein-rich II. Plantagenét.48 Bis 1184 wird der Aufenthalt des Lippers auch in dessen französischen Besit-zungen vermutet, wo er in Angers und im Anjou die fortschrittliche Bautechnik an Kirchen und Klös-tern kennen und schätzen lernte, die er dann später – möglicherweise über fachlich geschulte Begleiter in seinem Gefolge – nach Marienfeld vermittelt hat.49 Der lippische Edelherr Bernhard II. hatte aber wie die beiden anderen Adeligen durch seine politische Haltung gegen Friedrich I. sein Herrschaftsgebiet in Westfalen verloren. Durch Fürsprache des Bischofs Hermann II. von Münster (Abb. 3) musste er mit dem Edelherrn Widukind von Rheda und dem sächsischen Grafen Lüdiger von Wöltingerode-Wohldenberg beim Staufer Barbarossa Abbit-te leisten und zur Sühne ab 1185 das besagte Zisterzienserkloster Marienfeld stiften. Bernhard II. zur Lippe, der in seiner Jugend in Hildesheim eine klerikale Ausbildung erfahren hatte, trat mit dem Ein-verständnis seiner Frau 1197 selbst als Mönch in dieses Kloster ein.50 Er war mit 60 Jahren schwer erkrankt und hatte die Landesherrschaft seinem Sohn Hermann übergeben.51 Nach seiner Genesung erfolgte im Jahr 1209/10 der Aufbruch des schon betagten Lippers zu einem Kreuzzug nach Livland, an dem weitere Zisterzienser und neben vielen Adeligen auch der Verdener Bischof Yso von Wölpe teilnahmen. 48 LEIDINGER 1999, S. 9. 49 Eine Vermutung Paul LEIDINGERS, auf die sich die Kunsthistoriker DORN und KEMPKENS stützen und darauf auch die Herkunft der Marienfelder Bauformen zurückführen. 50 BENDER 2008, S. 148. 51 BENDER 2008, S. 146–168. Der Lipper litt vermutlich an Gicht durch falsche Ernährung, die aber wohl durch die gesündere fleischarme Kost im Kloster geheilt werden konnte.19 Hier schließt sich der Kreis der alten Bekanntschaften, sicherlich ein Indiz dafür, dass die Verbindungen weiterhin Bestand hatten.52 Als Bernhard von Wölpe sein Lebenswerk mit der Grün-dung des Klosters Mariensee krönen wollte (oder war es auch bei ihm eine Sühnestiftung?), ist deshalb wohl davon auszugehen, dass er bei seinem Projekt von diesem Bekanntenkreis weitestgehend unter-stützt wurde. In erster Linie werden aber die Bischofe von Minden, von ihnen seit 1209 Bischof Kon-rad, hinter der Verwirklichung des Klosterprojekts Mariensee gestanden haben. Mit wie viel Energie Bernhard II. zur Lippe an der Verbreitung der von Marienfeld ausgehen-den Architektur interessiert war, zeigte sich an der Aktivität seiner Familie. Bernhard II. zur Lippe hatte 11 Kinder, die in der Mehrzahl geistliche Ämter übernahmen. Überall wo sie auftraten, hinterlie-ßen sie Kirchenbauten nach dem charakteristischen Vorbild Marienfelds, erkennbar an der Wölbtech-nik als auch an der Ausbildung kreuzförmiger Pfeiler und einheitlicher Stilelemente. Dieses war ein Phänomen und insofern interessant, da Vergleichbares in der Geschichte mittelalterlicher Sakralbauten selten oder garnicht aufgetreten ist.53 Es wird heute von der Forschung als dynastisches Bauen der Lipper bezeichnet, denn die rege Bautätigkeit der lippischen Familie wurde vermutlich bewusst zur Darstellung ihres Herrschaftsanspruches benutzt.54 Es ist wohl anzunehmen, dass Bernhard II. als Pat-riarch der Lipper Familie dieses Erscheinungsbild mit allen Mitteln unterstützte und deshalb kein Wunder, wenn er auch seinen einstigen Kriegskameraden Bernhard von Wölpe in dieser Richtung beraten und unterstützt hat. Die Verbreitung der Marienfelder Architektur durch die Lipper fasste der Kunsthistoriker Hans Thümmler 1978 zusammen: Es gibt kaum eine zweite Kirche in Westfalen, die sowohl für die mittelalterliche Baugeschich-te als auch für die allgemeine Kirchengeschichte von größerer Bedeutung ist als die einstige Zisterzi-enserkirche von Marienfeld.55 56 Den westfälischen Einfluss nach Norden und Osten bestätigt Lobbedey noch 2000:57 Westfalen, eine Kunstlandschaft provinziellen Charakters, hat seinerseits eine gebende Rolle in der Spätromanik gespielt. Im Falle der Stiftskirche von Barsinghausen und der Zisterzienserkirche von Loccum, beide im nahen Niedersachsen, mag es sich um Ausläufer der westfälischen Bauweise handeln. Im Norden, in Friesland, sind westfälische Gewölbeformen leicht erklärbar, denn das Gebiet um die Emsmündung gehörte seit Liudgers Zeiten zur Diözese Münster. Auch die in den 1230er Jah-ren entstandenen Hallenkirchen in Bremen, Liebfrauen, und im unweit davon gelegenen oldenburgi-schen Berne ebenso wie die westfälisch gestalteten Teile des Bremer Doms gehören noch zum nahen Einflussgebiet. Anders sind die in Lübeck und Schleswig vorkommenden westfälischen Formen zu beurteilen. Es ist das Zeitalter der Ostkolonisation, und westfälische Kaufleute und westfälischer Adel haben an jener Bewegung teilgenommen, die die weiten Räume um die Ostsee erschloss. Sehr eindeu-tig markiert sich westfälische Baukunst der Spätromanik in Visby auf Gotland, aber auch in manchen festlandschwedischen Orten, und unverkennbar hat sie im baltischen Estland und Lettland weiterge-wirkt. Bernhard zur Lippe, Mitgründer von Kloster Marienfeld, Stadtgründer von Lippstadt und eine der markantesten Gestalten in Westfalen jener Zeit, war Abt von Dünamünde und Bischof in Livland, und Namen westfälischer Herkunft begegnen im Ostseegebiet allenthalben. Bemerkenswert ist, dass weder Thümmler noch Lobbedey und alle folgenden Autoren diesem elitären Kreis sakraler Architektur die erste frühgotische Backsteinkirche von Mariensee hinzuzählten. 52 DUENSING 1999. 53 KUBACH/VERBEEK 1978, S. XII: konstatieren nach Abschluss ihres Werkes über die romanische Baukunst am Rhein in einer ganz anderen Weise: In kaum einem Fall sind die geschichtlichen Beziehungen durch Grund-besitz (Fernbesitz der Abteien) Kollationsrecht oder anderes nachweislich für die kunstgeschichtlichen Zusam-menhänge bedeutsam geworden. Ob die Kirche einem Bischof, einem Kloster oder einem Grundherrn innerhalb oder außerhalb des Rhein-Maas-Gebiets gehörte oder unterstand, das hat nicht in erfassbarer Weise auf die Bauformen eingewirkt. 54 DORN 2008. 55 THÜMMLER 1978, S. 4. 56 SIGRIST / STROHMANN 1994. 57 LOBBEDEY 2000, S. 25.20 Zur Organisation des Klosterbaus Unter den beschriebenen Voraussetzungen war es wahrscheinlich, dass Konvent, Stifter und Bischof einvernehmlich einen erfahrenen Mönch des Zisterzienserordens als Instruktor beauftragten, der aber nicht als Baumeister oder Architekt anzusprechen war. Er hatte alle wesentlichen Entschei-dungen im Sinne des Zisterzienserordens zu treffen und deren Ausführungen zu überwachen, beriet den Stifter bei der Wahl des Bauplatzes, brachte Angaben zur Anlage des Klosters wie zur Ausführung der Bauten mit. Wahrscheinlich empfahl er dem Stifter auch einen Operarius aus dem Zisterzienseror-den, der als kaufmännischer Leiter verantwortlich für die Finanzen sowie die Bauaufsicht zeichnete. Zur Ausführung des Bauvorhabens dürfte auch ein Laienbruder des Ordens als Bau- oder Werkmeister vorgeschlagen worden sein. Dem Werkmeister oblag die Leitung auf der Baustelle und nach seinen Plänen wurde der Bau rational organisiert und ausgeführt. Er hatte die speziellen Handwerker anzu-werben, ferner musste er sich um Transport und Bereitstellung des Baumaterials kümmern. Allgemein wurden die Bauern und Handwerker am Ort zu Hand- und Spanndiensten herangezogen. Besonders in der Zeit zwischen Aussaat und Ernte und nach der Ernte mussten sie helfen, auch soweit das Wetter in der kalten Jahreszeit Aktivitäten noch zuließ. Gewinnung und Transport von Sand und Steinen, Holz-schlagen für Bauholz und Kohlenbrand sowie die Beschaffung von Kalksteinen über zumeist weite Wegstrecken waren ihre Aufgaben. Alles zeitraubende Betätigungen, die aber für den Fortlauf der Bauarbeiten bestimmend waren; denn zumeist lag das Tempo der Bauausführung an der Beschaffung und Bereitstellung des Baumaterials. Im Zuge der zum Ende des 12. Jahrhunderts verstärkt aufgenommenen Kirchenbautätigkeit hatten sich Werkgemeinschaften herausgebildet, die über einen hohen Grad an Fachkenntnissen im Bauwesen verfügten. Sowohl gelernte Handwerker als auch Hilfskräfte bildeten eine Werkgemein-schaft, in der es die primäre Aufgabe des Baumeisters war, die gedachte Vorstellung des Kirchenbaus Gestalt werden zu lassen. Diese Vorstellung existierte vermutlich weitestgehend nur in seinem Kopf, schlug sich aber kaum in Form maßstäblich gezeichneter Grund- und Aufrisszeichnungen nieder. Zu-meist entstanden nur Ritzzeichnungen von Details auf geglätteten feuchten Lehmtafeln zur Informati-on des Bauherrn oder der Mitarbeiter zur genaueren Anweisung einer auszuführenden Arbeit. Den Beruf des Architekten hat es in der romanischen Baukunst nicht gegeben. Man spricht vom Bau- oder Werkmeister, einer gebildeten, gut bezahlten und in der Bürgerschaft sozial hoch ste-henden Persönlichkeit. Ihm stand aus dem Zisterzienserorden der bestens ausgebildete Laienmönch gegenüber, der mit seinen architektonischen Fachkenntnissen ebenfalls eine Bauleitung übernehmen konnte. In den Klöstern wurde Bildung und Ausbildung geeigneter und talentierter Mönche und Kon-versen sehr wichtig genommen, um für die Leitung aller Projekte möglichst auf eigene und damit kos-tengünstige Kräfte zurückgreifen zu können. Entstammte ursprünglich der Werkmeister aus der Handwerkergruppe der Maurer, so verlangte bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts der größere Kirchenbau mit vermehrter Anwendung von Pfeilern, Säulen, Kapitellen und Bögen aus Werkstein sowie der Bau von Gewölben Kenntnisse in präziser Messtechnik, die eher innerhalb der Gruppe der Steinmetze gelernt und weitergegeben wurden. Der in Mariensee tätige Ordensbaumeister kam also wahrscheinlich aus dieser Berufsgruppe und dürfte mit allen erforderlichen Kenntnissen des Bau-handwerks vertraut gewesen sein. Obwohl die Forschung in der Vergangenheit davon ausgegangen war, dass so gut wie alle am Bau anfallenden handwerklichen Arbeiten von ordenseigenen Bauleuten ausgeführt wurden, zeigen Schriftquellen oder aussagekräftige Bauformen, dass vielfach unter Zister-zienserleitung lokale, nichtklösterliche Bauleute am Werk waren. Dies bestätigt sich in Mariensee, indem die Architektur zwar durch einen Werkmeister des Zisterzienserordens über Marienfeld vermit-telt wurde, an der Ausführung des Kirchenbaus in seiner fortgeschrittenen Ziegelsteinbauweise jedoch norddeutsche Ziegelbauer maßgeblichen Anteil hatten. Eine mit Mariensee vergleichbare Ziegelkunst war derzeit im westfälischen Marienfeld unbekannt und demnach dort noch nicht vom Zisterzienser-orden getragen.21 Die Einflüsse aus dem westfälischen Marienfeld Um 1200 machte das Zisterzienser-Männerkloster Marienfeld im Bistum Münster in Westfa-len mit einer neuen Technik des Kirchenbaus Schule. Die Abteikirche von Marienfeld war schon bald nach der Gründung des Klosters 1185 im Übergang von der romanischen zur gotischen Stilepoche begonnen worden. Bei ihrem Bau wurde die Ausbildung kreuzförmiger Pfeiler, eine konsequente Verwendung von Spitzbögen an den Schild- und Gurtbögen, besonders aber Gewölbe in hochkuppeli-ger Form, sogenannte Domikalgewölbe ausgeführt. Nach bisherigem Stand der Forschung kam das Wissen über diese Bautechnik aus Westfrank-reich. Man führt es auf den angevinischen Stil zurück, der im Herrschaftsbereich Heinrichs II. Planta-genét und seiner Gemahlin Eleonore von Aquitanien seit ca. 1150 nachweisbar ist.58 Seine Übertra-gung auf Westfalen und wohl zuerst auf Marienfeld, geht nach einer These Paul Leidingers auf Ver-bindungen Bernhards II. zur Lippe zurück, der sich zwischen 1181 und 1184 als Gefolgsmann des entmachteten Heinrichs des Löwen im französischen Angers am Hof Heinrichs III. Plantagenét auf-hielt.59 Der durch klerikale Schulung hochgebildete Bernhard lernte dort gotische Kirchen- und Hospi-talbauten mit völlig neuartiger Gewölbearchitektur kennen. Unter diesen Eindrücken boten in seiner Heimat die nach 1185 beginnenden Bautätigkeiten am Kloster Marienfeld und den Kirchen seiner Stadtgründungen Lippstadt und Lemgo ein reiches Feld, gewonnene Erkenntnisse umzusetzen. Gleichzeitig konnte der Lipper Edelherr aber auch auf das Wissen der Mönche des Zisterzienserordens zurückgreifen. Die praktische Ausführung der fortschrittlichen französischen Baukunst lag in den Händen jener Laienmönche, die ihre Kenntnisse über die regelmäßige Verbindung innerhalb des Zis-terzienserordens erworben hatten. Der Kulturexport lag vornehmlich bei den Orden französischer Herkunft, insbesondere der Zisterzienser. Diese hatten schon bald nach der Ordensgründung ein eigenständiges Architektursystem entwickelt, das durch vielerlei Vorschriften geregelt war. Durch die ständigen Visitationen der Klöster, die regelmäßig stattfindenden Generalkapitel und die engen Beziehungen zwischen Mutter- und Toch-terklöstern war die Basis für einen ständigen Austausch gegeben. Wenn die Zisterzienser in ihrem burgundischem Stammgebiet noch im 12. Jahrhundert gotische Gestaltungs- und Konstruktionsprinzi-pien übernehmen, überrascht es nicht, wenn wir diese bald allenthalben in Europa wiederfinden – von Portugal bis Polen und von Süditalien bis Schweden und England.60 Auch die Entstehung der Zisterzienserabteikirche Heisterbach (Abb. 9, 10.) zwischen 1202 und 1237 mit steil ansteigenden Gewölben und einen auf französische Vorbilder (Térouanne und Dommartin) zurückgehenden Chor weisen auf einen intensiven Wissensaustausch innerhalb des Or-dens.61i Die gotische Architektur wurde von den Zisterziensern auch wegen ihrer höheren technischen Perfektion importiert und dort, wo kein geeigneter Naturstein anlag, in Ziegelbauweise übertragen; eine Technik, in der sich der Orden schon im frühen 13. Jahrhundert als Schrittmacher erwies. Alle in Betracht kommenden Beispiele sind aber nicht deckungsgleich, überall gingen die Baumeister eigene Wege in der Ausführung. Man orientierte sich eher an der Vielfalt der Lösungen und Lösungsmög-lichkeiten, als an einem zum Muster erhobenen Bau. In diesem Sinne haben auch andere französische Kongregationen gewirkt, doch ist ihre Rolle schwierig zu bestimmen. Zu nennen wären die Viktoriner, die Prämonstratenser des Norbert von Xan-ten, die Kartäuser und die im 13. Jahrhundert stark durch Frankreich geprägten Bettelorden der Domi-nikaner und Franziskaner. Die Vermittlung davon beeinflusster linksrheinischer Bauhütten weit ins rechtsrheinische Gebiet hinein zeigt das Auftreten der typischen hochkuppeligen Gewölbeform in der Stiftskirche Fritzlar, die um 1200 von einer oberrheinischen (Worms-Mainzer) Bauhütte wiederaufge-baut wurde.62 58 SCHREINER 1967, S. 1–21; LEIDINGER 1985, S. 181-238; DORN 2006, S. 187–201. KEMKENS 2008, S. 11, 104–124. 59 LEIDINGER 1985. 60 KIMPEL/SUCKALE/HIRMER 1995, S. 468. 61 KUBACH/VERBEEK 1978. 62 BACKES/FELDTKELLER 1962, S. 283. Der heutige Dom geht auf die Zeit nach der Zerstörung Fritzlars 1232 zurück, nach neueren Forschungen aber schon früher, da nach 1171 die Kirche in schlechtem Zustand war. 22 Abb. 4: Köln, St. Gereon. Der Schnitt des innen 35 m hohen Zentralbaus verdeutlicht die Eiform seiner Kuppel. Auch in Köln wurde um 1220 in Frankreich vorgebildete Architektur angewandt. Zeichnung nach Kubach / Verbeek Wahrscheinlich war der Werkmeister von St. Gereon, der den Zentralbau von 1219–1227 er-neuerte, von den großen Bauten der Ile-de-France inspiriert. (Abb. 4) Obwohl ein romanischer Bau mit weiterführenden Einflüssen von Heisterbach und den Kölner Kleeblattchören, nähert er sich von allen frühen Kölner Kirchen am weitesten dem französischen Gerüstprinzip mit seinem Strebesystem. 63 Kaum ein anderer Bau zeigt bei einem Schnitt ein derart vollendetes Kuppelgewölbe. Auch für Marienfeld in Westfalen waren die sogenannten angevinischen Gewölbe wohl nur Anregung zu einer neuen Form. Der bereits hoch entwickelte französische Gewölbebau mit präziser Rippentechnik und steinsichtiger Ausmauerung der Gewölbekappen (Abb. 11) mit regelmäßigem Fu-genbild konnte nicht übernommen werden. Allem Anschein nach etablierte sich aber eine Parallelent-wicklung, die zunächst die äußere Form aus Frankreich nachbildete und später zum Kreuzrippenge-wölbe führte.64 Über den damaligen technischen Stand der Marienfelder Bauleute informiert die Draufsicht auf die Gewölbekuppen unter dem Dach der Klosterkirche. Sie nehmen die Form des Hüh-nereis auf und nutzen die Erfahrung, dass seine Stabilität nicht zu übertreffen ist. Die Klosterbauleute erfanden das Prinzip ihrer Gewölbe über die natürliche Idealform wohl neu; denn vielerorts entwickel-ten sie auf dieser Grundlage weitere eigenständige Konstruktionen. Der Rückgriff auf die elliptische Naturform ist bis heute aktuell und erfuhr zuletzt nach Plänen des Katalanen Antonio Gaudi in der Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona eine Weiterentwicklung. 63 GÜNTER 1979, S. 30, 31. DEHIO/EHMKE 1976, S. 338, 339. 64 Freundlicher Hinweis von Herrn Dr. Jens Reiche, Hannover.23 Abb. 5: Paderborn, Bartholomäuskirche am Dom. Die aus der Zeit Bischof Meinwerks um 1017 stammende Kirche ist mit ihren Hängekuppeln ein architektonisches Frühwerk in Westfalen. Foto: A. Sassen 1971 Da die Marienfelder Domikalgewölbe in der technischen Ausführung einen anderen Weg ge-hen als die hochkuppeligen Gewölbe in Angers, verweisen die Verfasser auf die dementsprechende Vorform der sogenannten Hängekuppel. Ihre Form ergibt sich aus einer halbierten Kugel, die an vier Seiten so beschnitten ist, dass als Grundfläche ein Quadrat entsteht. Die Hängekuppel trat im Rhein-land erstmalig an dem nach 1130 errichteten Chor und Querhaus der Klosterkirche Knechtsteden auf, von wo aus das Motiv dieser Gewölbeart im niederrheinischen Raum Verbreitung fand.65 Sowohl das Gliederungssystem des Knechtstedener Ostbaus als auch seine kuppelige Einwölbung gehen wahr-scheinlich auf die Vermittlung des aus Prémontré bestellten ersten Stiftspropsts Heribert zurück. Die in Ringschichten gemauerten Hängekuppeln finden sich in gleicher Mauerung und entsprechender Massierung gleichzeitig in den Kirchen Aquitaniens. Auch die Klosterkirche von Fontevraud, im Grenzbereich zu Anjou, Touraine und Poitou gelegen, hat Kuppelgewölbe in besonders entwickelter Form. Eine vergleichbare Gewölbeform zeigt die frühzeitig 1208 vollendete Backsteinkirche der Be-nediktinerinnen in Arendsee auf. Hier sind es kuppelig abgeschlossene Kreuzgratgewölbe aus leicht gebrannten Ziegeln, die im Oberbereich ringförmig aufgemauert wurden.66 Bemerkenswert weist die am Paderborner Dom stehende Bartholomäuskirche aus der Zeit des Bischofs Meinwerk (Abb. 5) bereits um 1017 eine vollständige Einwölbung aus Hängekuppeln auf. Sie sind die frühesten Gewölbe nördlich der Alpen, die mehrteilig einen Gesamtraum überdecken. Zur Auffassung, sie seien als operaios graecos das Werk byzantinischer oder griechischer Bauleute,67 vermutet man auch, dass sie auf das Können istrischer Bauleute zurückgehen.68 Möglicherweise ist das frühe Auftreten in Paderborn und die Anwendung dieser Gewölbeart in Aquitanien auf das Vor-bild der Einwölbungen der großen Zisternen in Byzanz zurückzuführen. 65 DEHIO/SCHMITZ-EHMKE 1976, S. 594 66 KRAUSE 1993, S. 390. 67 GÜNTER 1997, S. 163. 68 KNAUR 1993, S. 934. Zum Vergleich auch die Kuppelkirche Sta. Fosca in Torcello/Venetien über griechi-schem Kreuz vom Ende des 11. Jh.24 Abb. 6: Solingen-Wald, romanische Basilika des 12. Jhs. Blick in das Bausystem. Die Gesteinvorkommen am Ort ermöglichten einen Bau mit schweren Kreuzgratgewölben aus Bruchstein. Rekonstruktionszeichnung: Andreas Sassen 2007.25 Abb. 7: Mariensee, Klosterkirche der Zisterzienserinnen. Blick in das Bausystem. Frühgotische Saalkirche des 13. Jhs. aus Backstein mit leichter hochkuppeliger Wölbung. Zeichnung: Andreas Sassen 2002.26 In konstruktiver Beschränkung ergibt die Form der allseits runden Hängekuppel einen Aufbau nur mit seitlichen Rundbögen (Abb. 5). Lässt man die Kuppel jedoch steil zur Ellipsenform ansteigen, so ermöglicht diese an den Seiten den Einbau von Spitzbögen (Abb. 4 u.7). Erfahrungen zu bautechni-schen und architektonischen Veränderungen, Neuerungen oder Übernahmen ergaben sich von jeher aus Sehen, Kombinieren und Experimentieren. Es ist also durchaus möglich, dass man zur Realisie-rung des gotischen Bogens die ringförmig aufgemauerte Kuppel steil ansteigen ließ und sich daraus jene hochkuppeligen Domikalgewölbe ergaben, die dann in Marienfeld und anderen Orten wie auch Mariensee zur Anwendung kamen. Aufgrund der allseits abgerundeten Form der Kuppel war bei ihrem Bau kein Form- oder Lehrgerüst anwendbar, – man musste also frei aufmauern. Diese Bauweise ließ sich bei saugfähigen Ziegeln oder Bimssteinen mit normalem Kalkmörtel relativ einfach bewerkstelligen. Schwieriger war die Verwendung von Bruchsteinen, die am offenen Bauplatz zumeist erdfeucht zur Verfügung stan-den. Aufgrund ihrer Dichte nahmen sie kaum Wasser aus dem Mörtel auf, so dass der Aufbau über Kopf nur schwer stehen blieb, eher ständig auseinanderzufallen drohte. Wahrscheinlich wurde in sol-chen Fällen seit alter Zeit mit sogenanntem Heißem Kalk gemauert. Dabei wurde dem Mörtelgemenge aus Sumpfkalk und Sand am Bauort ein bestimmter Teil an Branntkalk beigemengt, der die Tempera-tur des Mörtels ansteigen und ihn wie schnellbindender Gips verwenden ließ.69 Zur Entwicklung des Gewölbebaus Die Verbreitung feuerfester, steinerner Kirchendecken ging um 1100 von Worms und Speyer über Mainz und Köln zum Niederrhein. In Köln entstand die Emporenbasilika St. Mauritius (1144 geweiht, nach 1803 abgebrochen) als eine der frühesten, in Haupt- und Seitenschiffen ganz gewölbten Kirchen der Stadt. Währenddessen fand vereinzelt auch rechts des Rheins in Westfalen der Gewölbe-bau schon Anwendung. Nachdem um 1140/50 die Stiftskirchen Lippoldsberg an der Weser und Cap-pel bei Lippstadt mit eingewölbtem Chor und Schiff entstanden, wurde fast jeder Sakralbau im westfä-lisch-niedersächsischen Raum nach diesem Muster gebaut.70 Das dabei angewandte Kreuzgratgewölbe aus zwei sich durchdringenden Halbtonnen verlangte eine quadratische Grundform, ein aufwändig gebautes hölzernes Formgerüst und sehr viel Baumaterial (Abb. 6). Aufgrund von Form und Gewicht bei einer Schalenstärke von bis zu 50 cm sackte es leicht im Scheitelpunkt ein und übte einen hohen Seitendruck auf die tragenden Umfassungsmauern aus. Eine romanische Kirche musste deshalb in der Regel mit massivem Mauerwerk als Ganzes zwischen Turm und Apsis hochgezogen werden. Erst dann wurde sie durch Überdachung wetterfest gemacht und schließlich eingewölbt. Gegenüber dem romanischen Kreuzgratgewölbe kam die Einführung des stark steigenden Domikalgewölbes um 1200 einer bautechnischen Revolution gleich. Die selbsttragende, spannungs-freie Kuppelschale konnte ohne Lehr- oder Stützgerüst frei aufgemauert werden. In Marienfeld und einer Reihe von Folgebauten – darunter auch Mariensee (Abb. 7) – geschah dies ringförmig unter Verwendung weich gebrannter, bis 31 cm langer Ziegelsteine.71 Diese lagen aufgrund ihrer Saugfä-higkeit sofort fest im Mörtelbett und ermöglichten einen raschen Aufbau bis zur Schließung der Kup-pel.72 Die Dimensionen der Marienfelder – und Marienseer – Gewölbe von 13 Metern Durchmesser (Diagonale des Quadrats von 9 Metern) zu einer Schalenstärke von nur 15 cm sind dem Verhältnis des 200fachen einer Eierschale von 45 mm zu 0,4 mm sehr nahe. Hier zeigte die Praxis, dass sich die Na-turform auch überdimensional verwirklichen ließ. Eine glatte Gewölbekuppel ließ sich mithilfe eines Mittelbaumes und Maßschnüren völlig frei aufbauen.73 69 Freundliche Auskunft von Herrn Ortwin Schwengelbeck, auf dessen Anregung an der Ingenieurschule Holz-minden 2015 entsprechende Versuche dieser vergessenen Baupraktik durchgeführt wurden. 70 HANSMANN 1966, S. 196. Die Stiftskirche von Cappel ist eine der ersten vollständig gewölbten Kirchen Westfalens, ebenfalls die von Mainz gebaute Kirche Lippoldsberg an der Weser. Nach LOBBEDEYs Ausgra-bungen in Paderborn, war auch der Vorgänger des heutigen Doms schon eingewölbt. 71 Ein unmittelbarer Folgebau Marienfelds war der Chor der inkorporierten nahen Kirche zu Isselhorst, bei der die gleichen Ziegel verwendet wurden. SASSEN 2000. 72 Der ringförmige Aufbau der Gewölbe ist besonders in der Bremer Marienkirche (Abb. 12) zu sehen. 73 Von der Ems bis Stralsund stehen Dorfkirchen mit tief ansetzenden, frei gemauerten Kuppelgewölben,27 Abb. 8, 8a: Kobern/Mosel, Matthiaskapelle. Um 1230 nach Motiven der Grabeskirche in Jerusalem errichtet. Die nur im Mittelbau vorhandenen gotischen Bogen werden von 30 Säulen, zu 6 Gruppen getragen. Schönstes Beispiel einer Kapelle der rheinischen Spätromanik. Aufnahme: Andreas Sassen 2012. Abb. 9: Heisterbach, Siebengebirge, Zisterzienserklosterkirche, erbaut 1202–1237, nach 1805 bis auf die Apsis abgebrochen. Der Längsschnitt der Kirche mit wichtigen Entwicklungsformen: Einbindung der Apsis in die Dimension des Mittelschiffs, Verwendung spitzer Gurtbogen in Mittelschiff und Querschiffen, runde Schildbögen und darüber hochkuppelige Gewölbe. Zeichnung von 1810 für Sulpiz Boissereé, aus Kubach/Verbeek. wahrscheinlich von westfälischen Siedlern übertragen. In Uexküll/Lettland findet sich stromaufwärts von Riga die älteste Kirche des Baltikums, um 1220 mit einem Domikalgewölbe im Chor und einer lippischen Rose an der Säule des Chorbogens. (1916 zerstört, heute halb überflutet). 28 Abb. 10: Heisterbach, Zisterzienserkirche. Blick nach Osten ins Kirchenschiff. Die Rekonstruktionszeichnung von Pützer 1894 zeigt die nach 1200 beginnende Gotik im Rheinland. Das aufgehende Mauerwerk erinnert noch an das romanische Knechtsteden, doch über den gotischen Gurtbögen ein hochkuppeliger Gewölbebau. Im Osten die Rundapsis mit Fächergewölbe. Abb. aus Kubach/Verbeek S. 375. In der Fortentwicklung der ringförmig gebauten Gewölbekuppeln legte man zur Gliederung und Maß-einhaltung diagonale oder achtteilige Rippen auf einem Lehrgerüst vor und mauerte darüber ringför-mig die Gewölbeschale. In Marienfeld ist zu sehen, dass man schon bald darauf die Rippen zur Stabi-lisierung direkt in die Schale einband. Als man damit begann, die Zwischenräume einzeln als gewölbte oder gebuste Kappen auszuführen, steigerte sich die Stabilität, wodurch man die Höhe der Gewölbe senken und dabei Material sowie Gewicht einsparen konnte. Der Auflagedruck der äußerst steil stei-genden Bauform verläuft mit nur geringen Seitenkräften fast senkrecht nach unten und wird über die Spitzbogen zu den Eckpunkten im Mauerwerk abgeleitet. Da die frühe Baukunst nur über Erfahrungen zu ihren Ergebnissen kam, versuchte man anfangs ohne oder mit nur gering dimensionierten Stützpfei-lern auszukommen.74 Damit wurden im Übergang von der Romanik die Grundvoraussetzungen zur Gotik eingeleitet. Erstmals konnte nun ein Kirchenbau in stabilen senkrechten Abschnitten, Joch für Joch gebaut werden. 74 Erst im 19. Jh. konnte man den statischen Druck der Gewölbe berechnen und verstärkte daraufhin bei vielen Kirchenrestaurierungen die Stützpfeiler oder legte sie neu an. BREYMANN/WARTH 1903, S. 294.29 Entwicklung frühgotischer Architektur am Rhein und in Westfalen Innerhalb der ersten zwanzig Jahre nach 1185, dem Gründungszeitpunkt des münsterländi-schen Klosters Marienfeld, entstanden an einigen Orten für Westfalen bedeutende Kirchenbauten. Etwa zeitgleich baute man in Lippstadt (Marienkirche, Stiftskirche und Nikolaikirche) und Lemgo (Nikolaikirche), Münster (Domwestchor), Minden (Ostchor mit Vierung), etwas später Geseke (Stifts-kirche), Obermarsberg (Klosterkirche), Billerbeck (St. Johannes), Herford (Münsterstiftskirche), Bre-men (Dom, Marienkirche), Berne (St. Ägidius), Loccum (Klosterkirche) und weit entfernt in Visby auf Gotland (St. Marien) und in Riga (Dom). Noch vor 1200 begann vermutlich auch der Burgenbau von Rheda mit seiner aufwendigen Turmkapelle.75 Nach Angaben des Dehio und gleichlautend bei Kubach und Verbeek wurden die meisten dieser Kirchen um 1200 oder nach 1220 begonnen – etwa gleichzeitig mit einem Bauboom im Rheinland. Das Rheinland wird gern allgemein als vorbildhaft in der Entwicklung der Architektur bis hin zur Gotik dargestellt, deren Einfluss über Westfalen hinaus bis in die angrenzenden östlichen Provin-zen reichte. Dagegen schöpften wiederum die rheinischen Kirchenbauer in ihrer Kreativität aus weit-reichenden französischen Quellen. Weitab vom Rhein und noch in etlicher Entfernung von der zweiten Kulturbarriere Weser befindet sich nun die Klosterkirche Mariensee. Im Hinblick auf ihre Bauge-schichte stellt sich die die Frage, wie an dieser Stelle schon bald zu Beginn des 13. Jahrhunderts an-scheinend unvermittelt diese frühgotische Kirche entstehen konnte. Ist zu dieser Zeit bereits die Archi-tektur rheinischer Kirchen als Vorbild für Mariensee heranzuziehen? Zur Einschätzung der Gotik im Rheinland schreibt Jürgen Kaiser: Das Rhein-Maasgebiet mit Köln als Zentrum erlebte in der Zeit zwischen 1150 und 1250 einen immensen Bauboom. Fast alle größeren Kirchen der Region wurden damals in erheblich aufwendige-ren Formen neu errichtet. Die Baumotive, die die rheinische Romanik bestimmten, kamen aus der Normandie und dem Anjou: die stark durchgliederte doppelschalig angelegte Wand mit Laufgängen, Emporen, Triforium, Dreibogenstaffel und Rippengewölbe mit und ohne Hängeschlussstein. Unmittelbar nach der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert tauchen im Formenrepertoire des spätro-manischen Kirchenbaus im Rheinland Einzelformen auf, die eindeutig der gotischen Architektur Nord-frankreichs entlehnt sind. Diese verdrängen zunächst nicht die lokale Bautradition, sondern werden immerhin ein halbes Jahrhundert lang in den spätromanischen Massenbau bereichernd integriert. Die Zisterzienserkirche Heisterbach (Abb. 9, 10) das Bonner Münsterlanghaus, das Dekagon der Kölner Stiftskirche St. Gereon (Abb. 4), die Andernacher Pfarrkirche, die Stiftskirche in Limburg an der Lahn und die Matthiaskapelle in Kobern (Abb. 7) sind die herausragenden Vertreter dieses facettenreichen und eigenständigen „Übergangsstils“. 76 Ein Vergleich des 1202 begonnenen Chors der Zisterzienserabteikirche Heisterbach im Sie-bengebirge mit demjenigen ihrer Tochtergründung Marienstatt im Westerwald zeigt unverkennbar, dass nur zwei Jahrzehnte später bereits eine viel deutlichere Übernahme gotischer Formen möglich war. Der 1222 begonnene Chor der Mariensstatter Zisterzienserabteikirche dürfte der erste rein goti-sche Sakralbau im Rheinland gewesen sein, sicherlich nicht unwesentlich bedingt durch die französi-sche Herkunft des Ordens. Erst mit der Trierer Liebfrauenkirche (Baubeginn um 1235), der Kölner Minoritenkirche (um 1245) und dem Kölner Dom (1248) entstehen hochgotische Kirchenbauten, die ein französisches Ge-samtsystem übernehmen und mit der spätromanischen Bautradition des Rheinlandes völlig brechen.77 Nach derzeitigem Forschungsstand ist in Westfalen mit der Klosterkirche Marienfeld in West-falen (Abb. 13, 15) eine zum Rheinland parallele Entwicklung vor sich gegangen, der für die Region und weit darüber hinaus eine Vorbildfunktion zukommt.78 Es ist nicht zu übersehen, dass bestimmte Formen zu dieser Zeit aus dem Rheinland übernommen wurden. Lobbedey konstatiert in Romanik in Westfalen sowohl in seinem Einleitungstext als auch in der Beschreibung der Klosterkirche Marien-feld: 75 KEMPKENS 2008, S. 115–118. 76 KAISER 2011, Der Spitzbogen macht noch keine Gotik – die rheinische Spätromanik, S. 11. 77 KAISER 2011, Beginn und Weiterentwicklung der Gotik im Rheinland, S. 13. 78 LOBBEDEY 2000, S. 139.30 Abb. 11: Angers, St Trinité um 1165 Abb. 12: Bremen, Liebfrauen um 1230. Der Blick in die Gewölbe beider Kirchen zeigt, dass die Anregungen zur Form der Gewölbe aus Frankreich kamen, ihr Auf-bau jedoch nach anderem Prinzip erfolgte. Ähnlich wie in Bremen sind auch die Marienfelder und Marienseer Domikalge-wölbe ringförmig aufgebaut. Aufnahmen aus: Dorn, St. Maria und Pusinna in Herford. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass vor allem die Domikalgewölbe und das Vorlagen-system der Pfeiler – sehr charakteristische Elemente der westfälischen Spätromanik – in Marienfeld zum erstenmal auftreten, und mit ihnen eine besondere Raumform. Dass die Gewölbe Vorbildern aus Südwestfrankreich folgen, halten wir für gewiss, wenn auch die technische Ausführung anderen Tradi-tionen folgt. Die übrigen Quellen des Baus sind nicht so eindeutig auszumachen. Aus westlichen, d. h. rheinischen und darüber hinaus französischen Quellen ist die Kapitellplastik zu erklären.79 An anderer Stelle erklärt Lobbedey weiter: Auch die hochkuppeligen Gewölbe treten hier auf, vor allem aber das Verhältnis der Stützen-höhe zur Gewölbehöhe von den Kapitellen bis zum Schlussstein, die beide etwa das gleiche Maß errei-chen. Solche Gewölbe, aber auch verwandte Raumformen gibt es im Poitou und Anjou, dem Gebiet des nach seinem Herrscherhaus benannten Style Plantagenệt. Dort lässt sich eine Abfolge feststellen von den einschiffigen aquitanischen Kuppelkirchen des 12. Jahrhunderts mit echten Kuppeln und den weiten, ebenfalls zum Teil einschiffigen Bauten mit rippenbesetzten, spitzkuppeligen Domikalgewölben wie etwa der Kathedrale von Angers. Zahlreiche Übereinstimmungen auch in kleinen Details bei den spätromanischen Bauten des 13. Jahrhunderts belegen, dass westfälische Meister in der Tat südwest-französische Bauten kannten. Die seit der Translation des hl. Liborius aus Le Mans nach Paderborn 836 lebendig gebliebene, auch im 13. Jahrhundert nachweisbare Verbindung zwischen den beidersei-tigen Domkapiteln ist dafür keine Erklärung, wohl aber untermauert sie die Beziehung.80 Allgemein weisen die Schwesterbauten Marienfelds gewisse Ähnlichkeiten miteinander auf, sie vergrößern den Raum, entwickeln die Pfeilertechnik weiter und verfeinern die Kapitellplastik so-wie die Gewölbedekoration. 79 LOBBEDEY 2000, S. 139. 80 LOBBEDEY 2000, S. 20.31 Abb. 13: Marienfeld in Westfalen, Zisterzienser-Abteikirche, begonnen nach 1185. Blick aus dem Langhaus in den Chor. In Marienfeld treten erstmals für Westfalen die hochkuppeligen, zeltartigen Gewölbe auf, die Vorbild für viele Sakralbauten des 13. Jahrhunderts wurden. Foto: Andreas Sassen 2015. 32 Abb. 14: Mariensee, Zisterzienserinnen-Klosterkirche. Blick in den nach 1207 begonnenen Chor. In Mariensee wurde erstmals rheinisch-westfälische und in Frankreich vorgebildete frühgotische Architektur in einer von Osten her entwickelten Backsteintechnik umgesetzt. Aufnahme von 1994, Archiv Kloster Mariensee.33 Abb. 15: Marienfeld, Klosterkirche. Blick in die kuppeligen Gewölbe der Vierung und des südlichen Querschiffs. Die architektonischen Gliederungen sind aus dem gelben Sandstein des Teutoburger Waldes, Mauern und Gewölbe aus Ziegelstein gebaut. Im Hintergrund eine der Dreifenstergruppen (wie Abb. 31a) des vermutlich erst nach 1215 entstandenen Querschiffs. Foto: Andreas Sassen 201534 Darüber hinaus wurden beim Neubau des Ostchors in Minden ausgeprägte Formen der damals hoch-entwickelten rheinischen Spätromanik übernommen.81 Im Prinzip verbleiben aber alle Baukörper in der Übergangszeit, die der romanischen Stilepoche zugeordnet wird. Dagegen treffen wir im Kloster Mariensee (Abb. 14) frühzeitig auf einen Kirchenbau, der sich nicht mehr in die bezeichnete Reihe der bis dahin entstandenen spätromanischen Sakralbauten einord-nen lässt. Man hat den Eindruck, dass hier um 1207 ein gebildeter Werkmeister die Möglichkeit be-kam, sein Können an einem Bau mitten in der Provinz, weitab vom Rhein und dem geschäftig führen-den Westen unter Beweis zu stellen. Da zu dieser Zeit besonders im ländlichen Bereich das Wissen auf die Klöster oder klerikale Kreise beschränkt blieb, ist zu vermuten, dass der in Mariensee tätige Werkmeister ein Angehöriger des Zisterzienserordens war. Vermutlich war es einer der weitgereisten jüngeren Mönche der zweiten Generation aus Marienfeld, der Vorstellungen aus seinen in Frankreich und am Rhein erworbenen Eindrücken und Kenntnissen in Mariensee umsetzen konnte. Im heimatlichen Marienfeld war ihm der Ziegelbau bereits geläufig, so dass er im sächsischen Mariensee, einer Region mit weit vorangeschrit-tener Ziegeltechnik, die besten Voraussetzungen für ein modernes Bauprojekt erwarten konnte. Ohne sich eng an die Architektur der bisher im Entstehen begriffenen Sakralbauten anzulehnen, realisierte der Werkmeister in Mariensee eine Kirche mit einer Reihe von extrem auffälligen und zudem in der Herkunft völlig disparaten formalen Kennzeichen. Die europaweiten Verbindungen des Ordens und das regelmäßig in Cîteaux zusammentretende Generalkapitel machten die Vermittlung neuen Wissens zwar für alle Abteien möglich, doch darüber hinaus schickte das Kloster Marienfeld seine Novizen zu einer umfassenden Ausbildung nach Paris. Der Orden bot damit seinem Nachwuchs eine elitäre Ausbildung, die allgemein den freiweltlichen Jugendlichen verschlossen blieb. Der Weg zu ihrem Schulungsort, der die jungen Männer zu Fuß über Köln, Brauweiler, Aachen und weiter von Kloster zu Kloster führte, war eine tiefgehende Studienfahrt zu vielen kirchlichen und mönchischen Zentren. Viele der Klöster und Stifte waren gerade vom da-mals herrschenden Bauboom erfasst und boten Anschauung und Anregung in der Entwicklung fort-schrittlicher Architektur. Besonders auf ihrem Weg durch das Gebiet nordöstlich der französischen Metropole konnten sich die wissbegierigen jungen Männer ein Bild von neuester Kirchenbaukunst machen.82 In der Landschaft zwischen Oise und Marne hatten französische Baumeister, durch das Vorkommen eines gut zu bearbeitenden Kalksteins begünstigt, an unzähligen Orten kleinere Kirchen-bauten errichtet. Diese Kirchen waren zwar nicht mehr hochkuppelig eingewölbt, doch die Bauleute verwirklichten dort erstmals den Spitzbogen in allen Variationen und erprobten in vielfältiger Weise den gotischen Gewölbebau auf Rippen, bevor diese Technik mit vielen wichtigen Erkenntnissen an den großen Kathedralbauten angewandt wurde.83 Bezeichnenderweise machen sich auch an der Klosterkirche von Mariensee ganz typische Merkmale dieser zunächst auf Frankreich beschränkten Bauentwicklung bemerkbar. Die architektoni-sche Besonderheit der hohen, überschlanken Fenster fällt dabei ins Auge. Darüber hinaus leitete der Baumeister beim Abschnüren des Grundrisses der Kirche die Anwendung regelmäßiger Maße und Zahlen ein, die wohl als leicht merkbare Vorgaben für die Bauleute gedient haben. Viele Maße und Zahlen erinnern jedoch an Erwähnungen in bestimmten Kapiteln des Alten und Neuen Testaments. Möglicherweise beabsichtigte er sogar ein Programm christlicher Symbolik, das ebenfalls von Frank-reich her vermittelt worden war.84 81 Der später gotisch umgebaute Ostchor in Minden weist deutliche Übereinstimmungen mit dem Südquerschiff im Bonner Münster auf. 82 LEIDINGER 1999, S. 17. 83 MÄKELT 1906. Das Buch des Autors gilt zwar als überholt, bietet aber Anschauung durch hervorragende Zeichnungen von damals noch vorhandenen Kirchenbauten. 84 MEUß 1998, S. 97–107.35 Die architektonische Nähe der Marienseer Kirche zu Marienfeld Die in der Region eher ungewöhnliche Form der in der Klosterkirche vorhandenen Gewölbe, vermittelten schon früh den Eindruck, in Mariensee sei ein von Westfalen her geschulter Baumeister tätig gewesen. Hamann und Graefe weisen darauf hin, dass in der Raumgestaltung und in der Gewöl-beform westfälische Einflüsse zu spüren sind85 und beziehen sich auf Clasen/Kiesow, deren Erkennt-nisse nach 1957 veröffentlicht wurden.86 Die Forschung über diese speziellen westfälischen Baufor-men und ihre Verbreitung wurde damals durch Hans Thümmler von Münster aus betrieben.87 In der hannoverschen Region wurde dabei von ihm aber nur die Kirche von Barsinghausen dafür vermerkt,88 die Klosterkirche von Mariensee dagegen nicht registriert und auch die folgende Generation der Kunsthistoriker wurde nicht auf diese Gegebenheiten aufmerksam. Der hochkuppelige Gewölbebau (Abb. 15) mit großer Spannweite wurde zu einem Marken-zeichen der Baumönche des Klosters Marienfeld.89 Auch wenn diese Bautechnik in Frankreich schon nicht mehr angewandt wurde, gab es hierzulande nach 1200 für viele Kirchenprojekte eine große Nachfrage zu der westfälischen Eigenentwicklung, und es ist kein Wunder, dass auch Mariensee da-von berührt wurde.90 Marienfeld hatte als einziges Zisterzienser-Männerkloster im Münsterland gerade in der ersten Zeit nach seiner Gründung großen Zulauf und verfügte wahrscheinlich über viele gut ausgebildete Laienmönche. Demzufolge konnten Fachkraftüberkapazitäten für Projekte der Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen in ganz Norddeutschland bis ins Baltikum vermittelt werden. Die Marienfelder Bauhütte selbst verließ also das Kloster nicht, sondern stellte aus ihrem Nachwuchs Werk- oder Bau-meister mit Assistenten ab, die am jeweiligen Bauort zusammen mit heimischen Handwerkern eine Hütte bildeten, um dann über viele Jahre einen Kirchenbau auszuführen.91 Bei der Betrachtung der Zeitfolge war die Klosterkirche Marienfeld, wie man heute vermutet, schon bald zwischen 1185 und 1190 begonnen worden. Bestimmte Abmessungen der Kirche über-nahm man von der Stiftskirche Freckenhorst bei Münster, wo einer der Gründer, Widukind von Rhe-da, die Vogtei innehatte. Als erste Stätte für Stundengebet und heilige Messe stand den Mönchen die bestehende alte Wadenhartkapelle zur Verfügung.92 Um 1203 war der Bau der Abteikirche soweit gediehen, dass man vor dem Hochaltar im Chor den verstorbenen Spiritus rector des Klosters Bischof Hermann II. von Münster beisetzte (Abb. 3).93 Der Mönchschor in Marienfeld erstreckte sich über zweieinhalb Joche bis zur Vierung der kreuzförmig geplanten Kirche und dürfte zu dieser Zeit einge-wölbt und für den Chordienst brauchbar gewesen sein. Man hatte also um 1203, ca.13 Jahre nach Baubeginn genaue Vorstellungen in Westfalen, wie die neuartigen hochkuppeligen Gewölbe auszufüh-ren seien. Dies ist ein Zeitpunkt, in der der fortschreitende Bau der Marienfelder Klosterkirche für weitere Kirchenbauten durchaus eine Vorbildfunktion erfüllen konnte. Aus dieser Zeitfolge wird wahrscheinlich, dass nach 1207 ein Werkmeister der zweiten Mönchsgeneration Marienfelds für den Bau von Kloster und Kirche in Mariensee abgestellt wurde. Die Klosterkirche Marienfeld war eine der ersten in Westfalen, deren Mauern und Gewölbe aus Zie-geln gebaut wurden. Doch Qualität und Formate der Steine waren so unterschiedlich, dass ein Rohzie-gelmauerwerk auf Sicht nicht möglich war. Die Ziegelmauerung wurde deshalb ganz verputzt, der Außenbau rot eingefärbt und ein weißes Fugenbild aufgemalt. Dagegen wurden alle architektonischen Gliederungen aus dem gelben Sandstein des Teutoburger Waldes steinsichtig und naturbelassen ein-gebaut. 85 HAMANN/GRAEFE 1994, S. 453. 86 CLASEN/KIESOW 1957, S. 121. 87 THÜMMLER/KREFT 1970; THÜMMLER 1978. 88 THÜMMLER/KREFT 1970, S. 142, 143, 254. 89 KEMPKENS 2008, S. 104–124; DORN 2008, S. 125–146. 90 DORN 2008, S. 125–146. Rezeptionen in: Lippstadt, Rheda, Minden, Münster, Paderborn, Berne, Bremen, Bassum, Lemgo, Hamburg, Herford, Osnabrück, Riga und weitere. 91 Das Generalkapitel in Citeaux beschäftigte sich mit dieser Arbeitsvergabe und verbot Einkünfte daraus. 92 LEIDINGER 1999, S. 8. 93 LEIDINGER 1999, S. 12, 13.36 Abb. 16: Marienfeld, Vierungsgewölbe. Abb. 17: Mariensee, Ostjochgewölbe. Gewölbeformen in der Klosterkirche Marienfeld/Westfalen (oben) und der Klosterkirche Mariensee (unten). Beide Gewölbe sind in Ringlagen aus Ziegel hochkuppelig gebaut. Rundstab-Gurte und -Rippen sind in Marienfeld in Werk-stein ausgeführt und zum Teil aufgemalt, während in Mariensee alle Profile in Ziegeltechnik gemauert und durch Putzüber-zug zum Werkstein umgedeutet wurden. Fotos: Andreas Sassen 2001.37 Abb. 18: 18a: Schnitt durch die Chorräume der Abteikirchen von Marienfeld (links) und Mariensee (rechts).Gemeinsam sind Höhe und Breite, die ursprüngliche Einschiffigkeit sowie die Art der Einwölbung. Gegenüber der geraden Chorrückwand in Marienfeld tritt in Mariensee als Forderung für eine Frauenkirche erstmals eine gotische polygonale Apsis auf, eine der frühesten in Norddeutschland. Zeichnung: Andreas Sassen 2001. Die Kirche zu Mariensee ist dagegen vollständig aus Ziegeln – die Gliederungen aus Formzie-geln errichtet worden, was durch die im nördlichen Sachsen bereits hochentwickelte Backsteintechnik möglich war. Hier wird deutlich, dass von Westen kommende Architekturentwicklungen im Osten bereitwillig aufgenommen und umgesetzt wurden, wogegen die fortschrittliche Ziegelbautechnik des Ostens kaum den Weg über die Weser nach Westen fand. Die Klosterkirche Marienfeld wurde zwar aus Ziegeln gebaut, doch mit Ausnahme des Burgturms von Rheda hat die Backsteintechnik in West-falen für lange Zeit keine Nachfolge gefunden.94 Abgesehen von den später in Bremen und Ostfries-land gebauten Ziegelkirchen, ist der größte Teil der Nachfolgebauten Marienfelds in Bruch und Werk-stein errichtet worden. Doch ebenso wenig wie die Klosterkirche in Marienfeld äußerlich die Besonderheiten ihrer Architektur preisgibt, verrät auch der Kirchenbau von Mariensee zunächst keinen Bezug nach Westfa-len. Erst der Blick in das Innere offenbart die enge Verwandtschaft der beiden aus Backstein errichte-ten Sakralbauten, wobei der erste Eindruck übereinstimmend von den tief ansetzenden und steil auf-steigenden zeltartigen Gewölben ausgeht. Nur der in Mariensee ausschließlich verwendete Backstein mit seinen leichten Gliederungen steht im Kontrast zu dem in Marienfeld verarbeiteten schweren Werkstein aus dem Teutoburger Wald (Abb. 16, 17) Ansonsten erfolgte hier wie dort die Teilung der Gewölbe in acht Kappenfelder und die obere Zusammenfassung der halbrunden Rippen durch einen Schlussring. Auch die Teilung der Gewölbejoche durch spitzbogige Gurte, deren Unterzüge als ganz typisches Marienfelder Merkmal ein großer ¾-runder Wulst aufgelegt ist, findet sich in gleicher Form 94 LOBBEDEY 2000, S. 139.38 in Mariensee wieder. Dagegen ist die mit Marienfeld verbundene charakteristische Kapitellplastik aus Blattmotiven in den Ziegelbau von Mariensee nicht übernommen worden. Eine weitere deutliche Nähe der Marienseer Kirche mit Marienfeld zeigt sich in den überein-stimmenden Grundmaßen (Abb.18, 18a). Beide Kirchenräume haben die gleiche Breite von 9 Metern. Ebenfalls sind die einzelnen Joche quadratisch angelegt, so dass sich sowohl in Marienfeld als auch Mariensee 9x9 Meter für ein Gewölbejoch ergeben. Die Abbildungen der Verfasser offenbaren auch die gleichartigen Proportionen der beiden im Prinzip einschiffig angelegten Kirchen. Dabei erreichen sie fast identische Höhenverhältnisse: über 16 Meter in Mariensee und 17 Meter in Marienfeld. Die Länge der Marienseer Kirche misst bei einer Unterteilung in drei Joche plus Apsis 32 Meter, das Ver-hältnis Marienfelds ist ähnlich mit fünfeinhalb Jochen und 52 Metern Länge. Abweichend von der im Osten gerade geschlossenen Männerklosterkirche Marienfeld tritt in Mariensee aus den Anforderungen für eine Frauenklosterkirche erstmals rechts der Weser eine frühgo-tische polygonale Apsis auf (Abb. 18a). Die direkte Einbeziehung der Apsis in Breite und Höhe des Gewölbesystems mit gleichhohen Gewölbegurten erforderte im gotischen Kirchenraum eine polygo-nale Form. Die mehrteilige gotische Apsis wurde fortan allgemein in die Saalkirchen der Nonnenklös-ter aufgenommen, denn sie hatte für diese Kirchen vorteilhafte akustische Eigenschaften. Darüber hinaus vermittelte sie schlanke, aufstrebende Verhältnisse und große Fensterflächen, die dem Sakral-raum eine bisher nicht dagewesene Lichtfülle gaben. Es ist bemerkenswert, dass im ländlich abgelegenen Mariensee frühzeitig richtungsweisende architektonische Leistungen aus mehreren Baukulturen zusammentreffen: Der westfälische Gewölbe-bau mit seinem unverwechselbaren Raumeindruck trifft auf den aus der Romanik hochentwickelten norddeutsche Backsteinbau. Verschiedene Zierformen werden daraus entlehnt, andere Einzelheiten treten dagegen völlig neu auf. Einzigartig ist aber die sich in Mariensee erstmals einstellende Frühgo-tik in Backstein, für die sich nach Westen bis zum Rhein keine Vorbilder finden lassen, sondern wahr-scheinlich französische Einflüsse geltend gemacht werden müssen. Abb. 19: Mariensee, Klosterkirche. Kopfkonsole am Beginn der Längsrippe im Gewölbe des Mitteljochs. Der Scheitel des Gurtbogens wird von einem Schaftring zusammengefasst. Foto Andreas Sassen 2001.39 Abb. 20: Mariensee, Klosterkirche, Nordseite. Derzeitige Darstellung der Kirche mit den drei Bauabschnitten und den sich anschließenden Teilen des Konventgebäudes von 1729. Zeichnung: Roggatz/Lemke, Klosterkammer Hannover 2001. Der Bau der frühgotischen Kirche in senkrechten Abschnitten Vom Verlauf der Arbeiten an Klosteranlage und Kirche ist zwar nichts überliefert, doch nach achtjähriger Bauzeit dürfte 1215 der Einzug des Konvents in Mariensee und auch die Weihe der östli-chen Kirche möglich gewesen sein (Abb. 21). Weitere Schlüsse können aus der Bauforschung an der Kirche gezogen werden, die nach der Spurenlage erkennbar in drei Bauabschnitten entstand (Abb. 20). Der abschnittsweise Bau von Zisterzienserkirchen findet zahlreiche Parallelen. Auch wenn der Ge-samtgrundriss der Kirche meist schon früh abgesteckt zu sein scheint, wurden die Fundamente erst im Baufortschritt gelegt, nur selten bei Baubeginn.95 In der Regel wurde die Kirche von Osten her begon-nen, die umgekehrte Baurichtung ist selten und scheint nur bei Ersatz älterer Kirchenbauten vorzu-kommen. Die Baunähte in Mariensee machen sich in der Verzahnung des Backsteinmauerwerks an zwei Stellen der Nordseite der Kirche bemerkbar. Die erste Baunaht (Abb. 35, 39) zeigt sich westlich des Stützpfeilers zwischen Ost- und Mitteljoch. Unmittelbar am Pfeiler ist der senkrechte Verlauf der Wartesteine zu sehen, in die die Ziegel des folgenden Bauabschnitts Mitteljoch eingreifen mussten. Hier ist schon zu sehen, dass vermutlich andere Ziegelbrenner das Steinmaß des ersten Bauabschnitts nicht mehr genau einhalten konnten; die Steine gerieten höher, so dass an die Wartesteine mehrfach angeflickt werden musste. Die zweite Baunaht findet sich zwischen Mittel- und Westjoch wiederum rechts von Stützpfei-ler (Abb. 40). Auch hier gelingt der Anschluss an die Wartesteine schon ab zwei Metern Höhe nicht mehr. Die Differenzen der wiederum geringfügig höheren Steine summieren sich schon im unteren Mauerbereich, weshalb auch hier mehrfach der Übergang ausgeglichen werden musste. 95 UNTERMANN 2001, S. 207.40 Abb. 21: Mariensee Klosterkirche, Apsis und Chor. Ansicht des ersten Bauabschnitts bei Bezug des Klosters durch den Konvent 1215. Zeichnung: Andreas Sassen 2016 Die Ziegelfertigung war eine sehr individuelle Kunst. Nach langen Ruhephasen am Bau waren die Ziegelbrenner sicherlich bemüht, sich mit ihren Backsteinen so gut wie möglich den Vorgängern anzupassen. Trotz geringer Toleranzen in den Maßen summieren sich diese mit der Anzahl der Stein-lagen, so dass die Verzahnung nicht mehr mit den Wartesteinen gelang. Die Differenzen zu früheren Steinproduktionen entstanden mit den Kastenformen, der Art des Lehms oder seinem Wassergehalt sowie dessen Zubereitung. Ebenso beeinflussen das Produkt die Dauer oder Temperatur des Brenn-vorgangs. An vielen Zisterzienserbauten sind die anfangs gewählten Bau- und Gliederungsformen über Jahrzehnte fast unverändert beibehalten worden: die Bauleute bildeten offenbar das bereits Vorhande-ne getreu nach und griffen nicht, wie zuweilen üblich, zu jeweils aktuellen Formen. Selbst bei der Wiederaufnahme des Baubetriebs nach langer Zeit, wie in Köln, Altenberg, Marienstatt und Haina, ist die Gesamtform zur Wahrung der Einheitlichkeit unverändert weitergeführt worden.96 In Mariensee wurde die Grundkonzeption der äußeren und inneren Gesamterscheinung mit den ursprünglichen Ab-messungen des Bauwerks zwar eingehalten, doch die sich an der Klosterkirche zeigenden Abschnitte machen auf einen Wandel in der Architektur aufmerksam. Er zeigt sich durch anders gestaltete Fenster und einer im Inneren abweichenden Wand- und Gewölbegestaltung. Diese Möglichkeit bestand durch 96 UNTERMANN 2001, S. 207.41 die in Mariensee erfolgte Bauweise der neuen Spitzbogentechnik, die Kirche in senkrechten Abschnit-ten zu errichten und dabei längere Bauzeiten zu überbrücken. Jeder einzeln überwölbte Raum war als sogenanntes Joch eine stabile Baueinheit, die für sich benutzbar war. An diese Bauweise wurde ver-mutlich auch in Mariensee die Finanzierung des Projektes angepasst. Allem Anschein nach verfügte der Stifter Bernhard zunächst über ausreichende Mittel, den Bau voranzuführen. Waren diese mit der Errichtung eines Kirchenteils erschöpft, wurde erst weitergebaut, bis wieder Geld zur Verfügung stand. Sein Tod konnte jedoch einen tiefen Einschnitt bedeuten, der das Projekt in Gefahr brachte. Nach der Mitte des 13. Jahrhunderts musste einkommendes Geld aus Ablässen die aus der Familie Wölpe fehlenden Stiftungen ablösen. 97 Am Bau der Kirche von Mariensee lässt sich ablesen, dass zuerst die polygonale Apsis mit ih-ren einhüftigen Gewölbeteilen zusammen mit dem Gewölbequadrat des Ostjochs als stabile Bauein-heit entstand (Abb. 21). Die nach Westen offene Seite des fertigen Kirchenjochs wurde mit einer pro-visorischen Wand aus Holz geschlossen, sodass dieser Teil seinen Aufgaben als Klosterkirche zuge-führt werden konnte. Dann folgte eine Bauunterbrechung, die sich möglicherweise über Jahre hinzog. War die Finanzierung des Weiterbaus gesichert, nahm man die Arbeiten am mittleren Joch mit der Errichtung der Frauenempore wieder auf, sodass die gewölbte Halle darunter schon bald als provisori-scher Nonnenchor genutzt werden konnte. Stifter und Konvent werden nach dem ersten Bauabschnitt auf die Errichtung des Mitteljochs mit der darin enthaltenen östlichen Emporenhälfte hingearbeitet haben, um einen für die Nonnen abgetrennten Raum in der Klosterkirche zu bekommen. Im Jahre 1221 verlor das Kloster seinen Gründungsstifter. Graf Bernhard II. von Wölpe war bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen, seine Beisetzung in der Kirche von Mariensee ist je-doch nicht belegt. Bekannt ist nur, dass aus Anlass des Todes von Graf Bernhard Bischof Yso dem Kloster die Kirche von Kirchwehren und zwei Höfe stiftete. Möglicherweise wird um 1221, sechs Jahre nach Weihe des ersten Bauabschnitts, das Mittel-joch der Kirche weitestgehend gestanden haben, sodass die Stiftung Bischof Ysos von Verden zur Fertigstellung dieses Teils der Kirche beigetragen haben könnte. Dieses Zwischenziel stellte den Non-nen mit der ersten Hälfte ihrer Empore einen wichtigen Teil der Klausur zur Verfügung. Das Fehlen des Initiators der ersten Stunde wird sich bemerkbar gemacht haben und dürfte sich 1231 mit dem Ableben Bischof Ysos, der schließlich auch zur Familie Wölpe gehörte, noch deutlicher gezeigt haben. In die Situation, dass der Bau von Kirche und Kloster stockte, kamen damals viele Klosterstiftungen; ehemals reichliche Mittel flossen langsamer und blieben irgendwann aus. Wahrscheinlich war dies der Grund, dass die Äbtissin Gertrud von Mariensee (1255–1267)98 sich 1263 an den Kölner Erzbischof Engelbert II. um Hilfe wandte.99 In der daraufhin ausgestellten Ablassurkunde vom 25. März 1263 ist von der Absicht der Vollendung der Kirche die Rede. 100 Über den zeitlichen Abschluss der Bauarbeiten gibt es unterschiedliche Ansichten, doch nach Vorstellungen der Verfasser dürfte er mit diesem Ablass auch durchgeführt worden sein. Gegenüber Ost- und Mittel-joch zeigt sich am Westjoch ein weiterentwickelter Gewölbebau, der im letzten Drittel des 13. Jahr-hunderts bereits üblich war. Demnach müsste die Laufzeit dieses ersten Ablasses, der nach Ausstel-lung für die Bauzeit bis zur Vollendung der Kirche galt, ausgereicht haben. Nach allgemeiner Lesart soll auch die Bemühung der Äbtissin Wilburgis (v. Wölpe (?) 1293–1314)101 um einen zweiten Ablass im Jahre 1312 noch für Bau und Vollendung der Kirche in An-spruch genommen worden sein, obwohl der dem ersten Ablass wohl zum Teil ungenutzte Zeitraum von 52 Jahren für den gleichen Zweck als sehr lang erscheint. Die im Exkurs (S. 94) angeführte, von Bischof Heinrich von Breslau und vier anderen Bischöfen am 7. Mai 1312 ausgestellte Ablassurkunde für das Kloster dürfte vermutlich noch andere Gründe gehabt haben.102 97 Ablass: indulgentia. Im 13. Jh. fand die Lehre vom "Schatz der überschüssigen guten Werke der Heiligen" Eingang. Die wahre Reue des Sünders blieb nach der Kirchenlehre Voraussetzung für die Wirksamkeit des Ab-lasses. Ablass wurde auch gewährt für den Bau von Kirchen, Hospitälern, Brücken, Straßen. Bonifatius VIII. führte 1300 den Jubiläums-Ablass ein. Im 15./16. Jh. uferte das Ablasswesen aus; im Volk herrschte die Mei-nung, man könne Sünden durch Geld abgelten. 98 DOLL, S. 40. 99 Engelbert II. (von Valkenburg) Erzbischof von Köln 1261–1274. 100 Calenb. UB 5, Nr. 70. 101 DOLL, S. 42. 102 Calenb. UB 5, Nr. 103; WUB 10, Nr.373.42 Nach Lesart der Verfasser spricht der Urkundentext vom Ausbau der Klausur und dem bereits eingetretenen desolaten Zustand von Teilen der Klosteranlage und der Kirche. Erfahrungsgemäß ist auch heute, etwa 100 Jahre nach Fertigstellung von Gebäuden eine gründliche Sanierung, zum Bei-spiel die Erneuerung der Dachdeckung höchst notwendig. Wohlgemerkt deckte man in damaliger Zeit die Dächer vielfach mit Holzschindeln, die zwar preiswert waren, jedoch naturgemäß nur eine be-grenzte Lebensdauer hatten.103 Bei der Größe der Gebäude war dies ein Unternehmen, das der Kon-vent allein zu dieser Zeit nicht stemmen konnte, zumal die Unterstützung der Grafenfamilie Wölpe durch deren Aussterben bereits nach 1300 weggefallen war. Die Grafschaft Wölpe kam an die welfischen Herzöge von Braunschweig-Lüneburg, die kein unmittelbares Interesse an dem Kloster hatten, denn Mariensee war nur noch eines ihrer Calenberger Klöster. In der Folgezeit verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Konvents, so dass ohne die früher üblichen Zustiftungen der Gründerfamilie finanzielle Engpässe mit Veräußerung von Besitz kompensiert werden mussten. Der im Exkurs angeführte Text der Sammelindulgenz für Kloster Mariensee vom 7. Mai 1312 vom Konzil in Vienne (Frankreich, Dep. Isére) (1311-1312) ist nach neuerem Transkript und Überset-zung von Eberhard Doll 2007 veröffentlicht worden. Beschreibung des Kirchenbaus Der Backsteinbau des Klosters Mariensee Im großen Gebäudekomplex der Klosteranlage Mariensee zeigt sich heute nur noch die aus der Früh-zeit stammende Kirche als steinsichtiger Ziegelbau (Abb.1). Alle übrigen Gebäude, um 1729 im schlichten Spätbarock erbaut, sind in verputzter Ziegelarchitektur erstellt worden. Die mittelalterliche Anlage war dagegen einheitlich in Rohziegeln errichtet worden. Während die Kirche in frühgotischer Architektur entstand, baute man die Klausurgebäude mit dem Kreuzgang herkömmlich im romani-schen Stil, bzw. in romanischen zur Gotik verschmelzenden Stilformen, wie es in der Übergangszeit nach 1200 üblich war. Dies zeigen Reste rundbogiger Mauergliederungen mit dem einstigen Fußbo-denniveau, die man auf der Südseite am Außenmauerwerk unter der heutigen Damenempore freilegte (Abb. 16).104 Weitere Ausgrabungen innerhalb des heutigen Innenhofes förderten Fundamente und den Fußboden des mittelalterlichen Kreuzgangs zutage, der so wie die Kirche etwa 70 cm unter dem Niveau des heutigen Konventbaues lag. Die Grundmauerzüge zeigten aber auch, dass die Klausurge-bäude der ersten Anlage kleiner waren und in ihrem Grundriss ein nach Norden offenes U ergaben. Demnach hat es damals keinen Nordriegel gegeben, womit sich die frühe Klosteranlage von Marien-see zu den damaligen Frauenklöstern einreiht, nicht nach dem Bernhardinischen Plan errichtet worden zu sein. Nach vergleichenden Forschungen von Claudia Mohn gab es allgemein bei den Nonnenklös-tern keine einheitlich angelegten Klausurbauten, selbst die Bauten der Zisterzienserinnen waren in ganz unterschiedlicher Form angelegt.105 Die Individualität der zisterziensischen Nonnenklöster erlaubte wohl auch in Mariensee, dass sich aus der ursprünglichen Anordnung der Klosterbauten eine relativ frei stehende Kirche ergab. Da sie nur an der Südseite des westlichen Jochs mit dem Klausurgebäude Verbindung hatte, blieb rundum der größte Teil der Kirche unverdeckt (Abb. 50). Der Baumeister des Klosters hatte die Kirche so weit wie möglich separat gestellt, um vermutlich das Sonnenlicht ganztägig in das Bauwerk einzubeziehen. Durch die zahlreichen großen Fenster kam er dem damals aufkommenden Wunsch nach Sonne, Licht und Wärme im sakralen Raum entgegen. Möglicherweise auch zur Hervorhebung der metaphysischen Bedeutung des Lichtes nach der sich damals verbreitenden Lehre des Abtes Suger von Saint Denis.106 103 BÖHMER/LEIDINGER 1998, S. 77. Die Kirche des Klosters Marienfeld war bis um 1400 mit Schindeln gedeckt, eine kostengünstige Bedachung, die dann gegen Blei und Kupfer ausgetauscht wurde. 104 ROGGATZ/LEMKE 2001. 105 MOHN 2006. 106 SUGER VON SAINT DENIS (1080–1151), Ratgeber Ludwigs VI. Von 1147 bis 1149 verwaltete Suger das Königreich als Reichsverweser. Als Abt von Saint-Denis bei Paris gab er vor 1137 die Abteikirche in Auftrag, die als erster Kirchenbau der Gotik gilt. Suger verfasste Schriften zur Architekturtheorie und zur Lichtmetaphy-sik. Windows Multimedia-Lexikon 2002.43 Abb. 22: Mariensee, Klosterkirche von Norden. Ansicht der Kirche nach ihrer Vollendung um 1300. Die Nordseite des Sakralbaus macht mit den wechselnden Fensterformen die zeitlich weit auseinanderliegenden Bauabschnitte deutlich. Rekonstruktionszeichnung: Andreas Sassen 2015.44 Abb. 23, 23a: Jerichow, Klosterkirche der Prämonstratenser. Ostansicht und Innenraum nach Osten um 1150. Jerichow war prägend im Backsteinbau des Nordens. Aufnahmen aus Krause, Sachsen Anhalt 1980, S. 136, 138. Inmitten der konservativ romanischen Umgebung von Wunstorf, Idensen, Mandelsloh und Loccum entstand in Mariensee ein Backsteinbau erstmals in gotischer Bauauffassung. Dies gelang in Zusammenwirkung mit den Ziegelmachern und Maurern, die möglicherweise aus Verden, einer der nächstliegenden großen Backsteinstädte kamen. Dabei konnte man in der Region auf die Erfahrungen einer schon langjährigen Ziegeltradition zurückgreifen. Schon im Verlauf des 12. Jahrhunderts waren in der Altmark bedeutende romanische Backsteinbasiliken entstanden, unter denen die Kirche des 1144 gegründeten Prämonstratenserklosters Jerichow (Abb. 23, 23a) die älteste ist und mit ihrer Ar-chitektur eine wichtige Vorbildfunktion einnimmt.107 Schiff und Chor von Jerichow sind flach ge-deckt, nur der hochliegende Ostchor hat eine zweischiffige gewölbte Krypta. Nach 1170 folgte die Augustiner-Chorfrauenkirche Diesdorf in massiven Formen, jedoch als erste umfassend kreuzgratge-wölbte Kirche der Altmark.108 Erst die um 1208 fertiggestellte Benediktinerinnenkirche Arendsee zeigt eine spätromanisch vollendete Form mit kuppeligen Kreuzgratgewölben.109 Diese und eine Reihe weiterer Kirchen beeindrucken durch die Sorgfalt des Backsteinbaus und verschiedene spezielle Bau-zierden, wobei der Kreuzbogenfries unter dem deutschen Band allgemein hervortritt (Abb. 23, 28). Die in der Altmark im 12. Jahrhundert unvermittelt auftretende hochentwickelte Baukultur in Ziegelstein lässt sich über die Stiftskirche von Jerichow auf Kirchenbeispiele nach Oberitalien zurück-verfolgen. Wahrscheinlich waren an ihrem Bau lombardische Ziegelfachleute beteiligt, die durch die lebhaften politischen Verbindungen deutscher Fürsten mit Italien nach Norddeutschland vermittelt wurden.110 Das verbreitete Auftreten von Backsteinkirchen im Norden lässt vermuten, dass um die Mitte des 12. Jahrhunderts anscheinend mehrere oberitalienische Bau- und Ziegelhütten an Orten zwi-schen Ems, Weser und Elbe arbeiteten. Sie gaben ihr Wissen an einheimische Handwerker und Hilfs-kräfte weiter und um die Jahrhundertwende dürften Folgegenerationen heimischer Ziegelmacher nach der Praxis der Norditaliener gearbeitet haben. 107 KRAUSE 1993, S. 421, 422. 108 KRAUSE 1993, S. 398. 109 KRAUSE 1993, S. 390, 391. 110 MÜLLER/DOLL 2000, S. 7–8. Die sichelförmige Flachschicht über den Fensterbögen war ein Merkmal, das sich auch in Oberitalien wiederfindet,45 Die Verbindung Jerichows als eine Kirche der Prämonstratenser mit dem Bistum Verden liegt nahe und macht nachvollziehbar, dass die sich entwickelnde Stadt Verden von der Backsteinbaukultur berührt wurde. Die Johanniskirche entstand frühzeitig in seltener Form als tonnengewölbte Saalkirche und noch vor 1200 wurde der aus Werkstein begonnene Domturm in Ziegel aufgestockt. Durch Yso von Wölpe (Abb. 2) ist Verden als Bischofssitz weitgehend ausgebaut worden. Dabei entstand zwi-schen 1212 und 1220 die Andreaskirche mit doppelten romanischen Gurtbögen, den auffallenden Baumerkmalen aus der Altmark sowie kuppeligen Kreuzgratgewölben. Die Bischofsstadt erhielt erst-mals eine schützende Ummauerung mit Türmen und Toren, die in Backstein ausgeführt wurde.111 Während seiner Amtszeit verfügte Bischof Yso in seiner Stadt sicherlich über die besten Ziegelhand-werker, die in der Lage waren, nach Plänen eines westfälischen Werkmeisters in Mariensee eine früh-gotische Backsteinkirche in neuester Bautechnik auszuführen. Die Bearbeitung der Ziegel für den Kirchenbau Die im Handstrichverfahren geformten Ziegel wurden während des Trocknungsprozesses in der Traditi-on der Werksteinbearbeitung nachbearbeitet. Diese sogenannte Riefelung des ungebrannten Rohlings erfolgte zur Glättung der Steine, wie auch zur Entfernung der Quetschfalten aus dem Formkasten. Dadurch erreichte man die Ausbildung besonders exakter Ecken und Flächen an Fensterleibungen und Gebäudeecken. Aber auch bereits versetzte Steine erhielten eine Nachbearbeitung. Um eine saubere Schräge der Fensterleibung zu erzielen, wur-den Überstände einzelner Steine sauber abgetragen und geglättet. Die Nachbearbeitung am Rohling, die mit dem älteren Backsteinbau verbunden war, reicht bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts und bildet somit auch eine gewis-se Datierungsgrundlage. Sie ging aber vielfach auch nach den Aufkommen der Formsteine weiter und wurde gerade bei reich profilierten Backsteinen angewendet. Allerdings war die Fertigung von Formsteinen sehr teuer, für einen Formstein musste man den Wert von zehn Mauersteinen berechnen. Das Brennen der Steine für das Sichtmauerwerk geschah in mindestens zwei Ziegelöfen, die wechselweise betrieben wurden. Die trockenen Rohlinge wurden im länglichen Ofenraum nach einem bestimmten System gestapelt und mit entsprechend do-siertem Unterfeuer gebrannt. Gerade der Brennvorgang, der mit trockenem Holz durchgeführt wurde, brauchte Fachleute mit großer Erfahrung. Trotzdem lieferten die jeweiligen Brände mehr oder weniger unterschiedliche Ergebnisse. Man musste sortieren und verwendete im Sichtmauerwerk nur Erste Steinqualität, im Hintermauer-werk Zweite Qualität und für das Füllwerk im Inneren den Bruch sowie verzogene und verbrannte Ziegel, die dann mit Kalkmörtel vergossen wurden. 112 Wahrscheinlich wurde während der Bausaison zur Erzeugung der vielen Ziegel, die nicht im Sichtmauerwerk gebraucht wurden auch das sogenannte Feldbrandverfahren ange-wendet. Hierbei sind die Rohlinge unter freiem Himmel in langer Reihe gestapelt, mit Brennholz umgeben und gebrannt worden. Dabei arbeitete man kontinuierlich in eine Richtung: Vorn wurde gestapelt, getrocknet und gebrannt und hinten die fertigen erkalteten Steine aus der Asche abgeräumt. Im Gegensatz zu den hartgebrannten Mauerziegeln verwendete man für den ringförmigen Aufbau der Gewölbe einen länglichen weichgebrannten Ziegel, der spezifisch leicht war und sich aufgrund seiner Saugfähigkeit schnell im Mörtelbett versetzen ließ.113 Die äußere Erscheinung der Klosterkirche Die Klosterkirche Mariensee wurde ein hochaufragender Bau, bestehend aus einem polygona-len Chor im Osten und drei gewölbten Jochen mit einer geraden Abschlusswand im Westen, auf des-sen Giebel im 19. Jahrhundert ein kleiner Glockenturm gesetzt worden ist. Nach den bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts in Norddeutschland verbreiteten romanischen Kirchen mit ihrem gesetzten aber soliden Erscheinungsbild, wirkt die Klosterkirche Mariensee durch erstmals verwirklichte frühgotische Formen als aufstrebendes schlankes Bauwerk (Abb. 22). Dieser Eindruck wird von ihrer Höhe hervor-gerufen und von den die Außenmauern einteilenden Lisenen unterstützt, die erst im 19. Jahrhundert zu Strebepfeilern ausgebaut wurden. Am polygonalen Chor sind sie in dichter Folge angesetzt, um den Seitenschub des mehrteiligen Chorgewölbes aufzunehmen. Nach Westen hin stützen sie die Gurtbogen und markieren die Abschnitte der Gewölbejoche in der Kirche. Die dadurch entstandenen hochrecht-eckigen Wandfelder sind durch überschlanke Lanzettfenster aufgelöst, die aufgrund ihrer frühen Ent- 111 HAIDUCK 2009. Die sichelförmige Flachschicht findet sich an den Kirchen der ostfriesischen Halbinsel, z. B. Hage, Victobur, Ardorf, Aurich-Oldendorf, Reepsholt, Middels,. 112 Nach freundlicher Auskunft von Dr. Ulfried Müller, Garbsen. 113 Nach eigenen Recherchen der Verfasser.46 stehung noch ohne Maßwerk sind. Ihre ungegliederten Leibungen öffnen sich zunehmend nach außen, sodass sie durch die Abschrägungen komplizierte asymmetrische Formziegel erforderten, die in meis-terlicher Qualität hergestellt und verbaut worden sind (Abb. 27). Der Geist gotischer Bauauffassung drückt sich in Mariensee erstmals in einer konsequenten Höherentwicklung der Architektur aus (Abb. 22, 26). Für diese neuartige, von der Gotik bestimmte Gesamterscheinung der Kirche finden sich zunächst keine Vorbilder. Sowohl in Westfalen als auch am Rhein lieferte zu dieser Zeit der Übergangsstil zwar glänzende Ergebnisse, doch von der Grundhaltung her verharrt die Baukunst noch in der Romanik. Bis zum Baubeginn der Klosterkirche Marienstatt im Westerwald um 1222 ist am Rhein keine Kirche entstanden, die man rein gotisch bezeichnen könnte. Dagegen finden sich in der eingangs schon erwähnten französischen Provinz Beispiele und Lösungen, die für Mariensee anwendbar gewesen sein könnten. Im Walde von Compiègne, 10 km südlich der Stadt, wurde um 1200 die Abteikirche St.-Jean-aux-Bois im Stile reinster Frühgotik erbaut (Abb.25).114 Damals ein hochmodernes Muster der Architektur und mögliches Vorbild für Mariensee, denn es finden sich vergleichbare Proportionen, Abmessungen und Fensterformen. Im Gegensatz zu dieser Benediktinerinnenkirche mit einem einfachen, gerade geschlossenen Chor, ging die Entwick-lung in Mariensee weiter: die Frauenkirche erhielt eine Apsis auf polygonalem Grundriss. Das gesamte Kirchengebäude steht auf einem Sockel und mehreren Quaderlagen aus hellgrau-em Sandstein, der aus einem der Steinbrüche im Deister geliefert wurde. Das umfangreiche, schwere und sehr kostspielige Material wurde aufgrund der damals schlechten Wegeverbindungen vom Ober-lauf der Leine auf Flachbooten flussabwärts bis Mariensee transportiert.115 Mit dem aufwendigen ho-hen Werksteinunterbau schützte man das daraufstehende Ziegelmauerwerk vor aufsteigender Feuch-tigkeit. Aus Gründen der Sparsamkeit hat man am zuletzt gebauten Westteil zwar den Sockel daraus errichtet, aber auf die weiteren Quaderlagen verzichtet. Der an der Kirche verwendete Backstein im Klosterformat 30:14:8,3 cm ist dagegen vor Ort erzeugt worden. Der Untergrund des Leinetals ist von tonigen Erdschichten durchzogen, die in nahen Gruben zur Gewinnung von Ziegellehm abgebaut wurden.116 Seine Weiterverarbeitung zu Ziegeln geschah jedoch in unmittelbarer Nähe der Kirchenbaustelle, um weite Transporte des brüchigen Mate-rials zu vermeiden. Das für uns heute sichtbar solide und gleichmäßig erscheinende Farbbild der Backsteine an der Kirche war das Ergebnis sorgfältiger Sortierung. Die Verbauung der Ziegel erfolgte damals im unregelmäßigen, sogenannten Wilden Verband, wobei nach unterschiedlicher Anzahl von Läufern ein Binder folgte. Dies ist eine wichtige Datierungsgrundlage und erleichtert die Erkennung späterer Veränderungen. Sie wurden zwar stets mit Ziegeln im historischen Klosterformat und passen-dem Farbton vorgenommen, doch die im 19. Jahrhundert am Mitteljoch eingebauten Fenster, die Pfei-ler und Ausbesserungen unterhalb des Maßwerkfensters am Westjoch weisen vielfach den erst später angewandten Kreuzverband auf. Abb. 24, 24a: Das in Mariensee angewandte Profil am Traufgesims, umgekehrt am Sockel und innen auf den Kämpfern der dreieckigen Pfeiler (rechts) ist eine Standardform der Romanik. Dazu die Kämpferplatte vom Petersberg bei Halle (links). Umzeichnung nach Lübke und Foto: Andreas Sassen. 114 MÄKELT 1906, S. 49-50, nennt eine Bauzeit der Kirche St.-Jean-aux-Bois um 1200, womit ihr eine Vorbild-funktion für Mariensee zukäme. Im Katalog von KIMPEL/SUCKALE wird die Entstehungszeit um 1230-50 genannt. Damit wäre Mariensee eine Parallelentwicklung. 115 Freundlicher Hinweis von Dr. Ulfried Müller, Garbsen. 116 Im Neustädter Gebiet gab es traditionell zahlreiche Ziegeleien. Der letzte noch tätige Ziegelmeister in Bor-denau lieferte bis jetzt Formen und Farben für Restaurierungen in Deutschland. 47 Abb. 25: St.-Jean-aux-Bois bei Compiègne, Zisterzienserinnen-Klosterkirche. Nordansicht von 1906 der um 1200 im reinen frühgotischen Stil erbauten Kirche. Sie könnte mit ihren Proportionen vorbildhaft für Mariensee gewesen sein. Umzeichnung: Andreas Sassen nach Mäkelt 2015 Abb. 26: Mariensee, Klosterkirche, begonnen nach 1207. Die Nord-Außenansicht zeigt im ersten Bauabschnitt mit St.-Jean-aux-Bois ähnliche Proportionen, Dreifenstergruppen und frühzeitliche Lanzettfenster. Rekonstruktionszeichnung: Andreas Sassen 2015.48 Abb. 27: Mariensee, Klosterkirche, Chorhaupt mit mittlerem Apsisfenster. Traufgesims, Kreuzbogenfries und Begleitbogen über der Fensterwölbung sind Anleihen aus norddeutscher Backstein-Romanik. Foto: Andreas Sassen 2001. Die Ziergliederung am Oberteil des Chorhauses vermittelt deutlich, wie traditionelle romani-sche Formen in die Frühgotik eingehen. Der obere Bereich des Mauerwerks ist außer am Westgiebel von einem umlaufenden Fries aus sich überschneidenden Rundbögen abgeschlossen (Abb. 27). Dieser Kreuzbogenfries ist in der romanischen Backsteinarchitektur Norddeutschlands weit verbreitet und tritt erstmals in Jerichow in der Altmark auf (Abb. 28a) Wie andere Ziegelmuster ist sie in der Werk-steinbearbeitung vorgebildet, denn die aus rotem Sandstein ab 1137 gebaute Klosterkirche Fredelsloh im Solling zeigt diese Zierform in kontrastierenden hellen Sandstein an ihrer Westapsis (Abb. 28). 117 Abb. 28, 28a: Viele Architekturteile aus Werkstein lieferten Vorlagen, die in Backstein nachgebildet wurden. Links, Fredelsloh, Klosterkirche nach 1137 mit einem Kreuzbogenfries in Sandstein. Rechts eine Ausbildung in Backstein an der Klosterkirche Jerichow wenige Jahre später. Umzeichnung nach Lübke und Foto: Andreas Sassen 1990. In Mariensee ist sie durch Weglassen des Deutschen Bandes stark vereinfacht. Ansonsten tritt der Bo-genfries im oberen Bereich durch einen Füllputz geschickt zurück, sodass mit den unten offenen klei-nen Spitzbogen ein rein gotisches Erscheinungsbild entsteht (Abb. 27). Jeder Rundbogen be 117 THÜMMLER/KREFT 1970, S. 75–77, 261. Die seltene Ausbildung des Kreuzbogenfrieses in Werkstein ist an der Westapsis der Stiftskirche Fredelsloh im Solling zu finden. Im Kontrast zur aus Rotsandstein gebauten Kirche ist er in hellem Stein gearbeitet. Fredelsloh wurde 1137 vom Hochstift Mainz wahrscheinlich als Prä-monstratenser-Doppelkloster gegründet, der Kirchenbau entstand zwischen 1137 und 1172.49 Abb. 29: St.-Jean-aux-Bois Abb. 30: Mariensee Darstellung der im Maßstab angeglichenen Chorseiten der frühgotischen Nonnenkirchen. In St.-Jean-aux-Bois eine flache Chorwand mit Dreifenstergruppe für den im Osten liegenden Nonnenchor, in Mariensee eine polygonal angelegte Apsis für den fernen Nonnenchor auf der Westempore. Umzeichnung nach Mäkelt und Zeichnung: Andreas Sassen Abb. 31, 31a: Dreifenstergruppen, links: Marienkirche Lippstadt, rechts Kloster Marienfeld. Umzeichnungen nach Lübke: Andreas Sassen.50 steht aus sieben Formsteinen unterschiedlicher Größe. Durch Übereinanderlegen ergeben sich zwei Schnittpunkte, durch die unter einem Rundbogen zwei Spitzbogen entstehen, die auf Konsolen auflie-gen. Die mit Füllputz geschlossene Version des Kreuzbogens blieb zwar auf Mariensee beschränkt, in offener Form finden wir sie an der etwas später begonnenen Klosterkirche Güldenstern in Mühldorf an der Elbe. Auch Backsteinbauten in Ostfriesland wiederholen zum Teil den Jerichower Fries oder wandeln ihn auf vielfache Weise um.118 Eine weitere Anleihe aus der Romanik ist das Traufgesims zur Stabilisierung der Mauerkrone, das beim Bau der Kirche in umgekehrter Form schon am Mauersockel Anwendung fand. Die Teile aus Platte, Wulst und Kehle sind wie der Sockel aus grauem Deistersandstein gearbeitet und folgen einem viel verwendeten Profil, das 1160/70 an den Säulenkapitellen der Domkrypta von Naumburg verwen-det wurde und sich an den Ostteilen der 1142/51 geweihten Stiftskirche Petersberg bei Halle wieder-findet (Abb. 24).119 Dieses Standardprofil der Romanik ist ebenso als Kapitellform an den Kämpfern der dreieckigen Pfeiler im östlichen Teil der Kirche verwendet worden. Dort ist es auf jeden Fall ori-ginale Bausubstanz (Abb. 24a), am Traufgesims wahrscheinlich auch, geht man davon aus, dass die dunkleren Teile original sind, die helleren dagegen 1867 ersetzt worden sind (Abb.27). Ein ebenfalls aus der Romanik übernommenes Detail ist der Begleitbogen über den Fenstern. In Mariensee ist er aus glasierten Formziegeln gearbeitet und tritt deshalb als Bauschmuck besonders hervor (Abb. 27). Die dekorative Flachschicht über den radial gestellten Ziegeln der Fensterbögen ist ein im 12. Jahrhundert weit verbreitetes Gestaltungsmerkmal, der im Backsteinbau zum Teil als sichelförmiger Bogen ausge-führt wurde. Ursprünglich ist diese Bauzier eine Erscheinung im italienischen Backsteinbau des 11. Jahrhunderts und findet sich an Kirchen in Mailand, Lomello, Agliate und weiteren Orten. In Deutsch-land erscheint sie erstmals in Tuffstein am Westbau von St. Pantaleon in Köln, der bis Mitte des 11. Jahrhunderts erbaut worden war.120 Als rein gotische Teile bleiben offensichtlich die spitzbogigen Fenster mit der für die Frühgo-tik typisch gedrückten Bogenform. In der Gesamtansicht dominiert die überschlanke Lanzettform, die sich mit dem hochrechteckigen Polygonteil verbindet und den beabsichtigten gotischen Eindruck ver-mittelt. Die ursprüngliche Ausführung der Wandvorlagen zur Verstärkung oder Stützung der innen angebauten Gurtbogenpfeiler waren vermutlich als Lisenen (oder dornförmig?) gestaltet, wie es der Bauaufnahme von 1844 zu entnehmen ist. Die heutige Form aller Stützpfeiler entstand während der Sanierung durch Steffen und Hase nach 1867. Obwohl die Kirche sicherlich vom ersten Baumeister als Ganzes konzipiert worden ist, wird am Außenbau an den wechselnden Fensterformen deutlich, dass man sich im Bauverlauf an den da-mals schnell ändernden Trend der gotischen Stilentwicklung anpasste. In der Apsis, mit der die erste Bauphase beginnt, sind in die schmalen Teile des Polygons hoch aufragenden Lanzettfenster einge-setzt worden. Diese Fensterform setzt sich im Ostjoch auf beiden Seiten als eine Dreifenstergruppe fort. Die unterschiedliche Höhe innerhalb der Gruppe ergibt sich aus dem steigenden Schildbogen im Inneren, bei dem die mittlere Fensterbahn bis in die Spitze stößt. Ein Merkmal der frühgotischen Lan-zettfenster und Dreifenstergruppen ist das Fehlen jeglicher Maßwerke. Dreifenstergruppen sind eine Bauform, deren Disposition Mäkelt in Frankreich schon für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweist. Am Rhein und in Westfalen zeigt sie sich im Übergangsstil um 1200 an verschiedenen Orten mit romanischem Bogen (Abb. 31). Noch in der Zeit vor 1200 kam die Verwendung des Spitz-bogens der Frühgotik dazu, wie die Dreifenstergruppe in der Chorwand der Abteikirche St.-Jean-aux-Bois zeigt (Abb. 29). Ihr relativ einfacher Aufbau könnte, wie die dortigen Lanzettfenster so wie die Gesamterscheinung der Kirche, für Mariensee vorbildlich gewesen sein.121 Die schlichte Fensterform an St.-Jean-aux-Bois entspricht der frühgotischen Backsteinausführung in Mariensee, die im ersten Bauabschnitt ausgeführt, wohl eine der frühesten Dreifenstergruppen in Norddeutschland ist. Der Werkmeister setzte die Idee der damals fortschrittlichen Fensterformen konsequent in der einheitlichen Gestaltung des Chorraums von Mariensee um. So fügte er Lanzettfenster in die schlanken Apsisseiten ein und löste die neun Meter breiten Schildwände des Ostjochs mit Dreifenstergruppen aus ebenfalls 118 HAIDUCK 2009. 119 KRAUSE 1993. S. 443, 453. 120 Freundlicher Hinweis von Dr. Jens Reiche. 121 MÄKELT 1906, S. 49–50, 51 hochaufragenden Lanzettfenstern auf (Abb. 26, 37). Bei der Größe der Anlage, beließ er breite Wand-bahnen zwischen den Fenstern, um auf der statisch sicheren Seite zu bleiben. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts sind Dreifensterstaffelungen sehr häufig zur Anwendung gekommen. Nach Lösungen im Rundbogen an der Marienkirche in Lippstadt und möglicherweise an der Ostwand des Chors von Marienfeld, wurde diese Fensterform erst nach der Weihe der Kirche 1221 im Spitzbogen mit eingestellten Säulen an den Querhäusern realisiert (Abb. 15, 31a).122 Dies geschah anscheinend gleichzeitig mit dem Bau der sehr ähnlichen Dreifenstergruppe am Westgiebel von Groß St. Martin in Köln, die mit der Westverlängerung der Kirche um 1220–25 entstand. Wahrscheinlich baute man zu dieser Zeit auch die gestaffelten Fenster an der Westfront von Heisterbach.123 Eine ei-genständige Lösung fand ein Baumeister in Westfalen, indem er an den Querhausfassaden von St. Aegidien in Wiedenbrück/W. eine Dreifenstergruppe samt Kleeblattportal der Kirche zu Cha-migny/Seine et Marne wiederholte.124 Neben den genannten Beispielen findet sich diese Fensterord-nung am Dom zu Münster, an der Zisterzienserkirche Riddagshausen, den älteren Chorteilen des Doms von Güstrow, der Westfassade von Lehnin, an den Querhäuser von Cammin, an der Chorrück-wand in Sonnenkamp und einer große Anzahl von Landkirchen in Mecklenburg-Vorpommern. Zu den Backsteinkirchen in Ostfriesland waren vermutlich die Verdener Ziegelmaurer Überbringer der Drei-fensterform. Nach der ersten Bauunterbrechung in Mariensee, die sich an der Baunaht zwischen Ost- und Mitteljoch feststellen lässt, wiederholte man keine Dreifenstergruppe mehr, sondern probierte neue architektonische Lösungen. Zudem erforderte die im Mitteljoch beginnende Zweistöckigkeit des Kir-cheninneren kürzere Fenster (Abb. 22, 26). Die damals auf beiden Seiten des Mitteljochs geschaffenen Lösungen sind jedoch nicht erhalten geblieben. Auf der Südseite, die schon im Mittelalter durch einen Klausuranbau verdeckt wurde, sind nach Plänen C.W. Hases die Bogenstellung der Konventempore eingebaut und damit alle Spuren der ursprünglichen Gestaltung beseitigt worden (Abb. 20). Die Nord-seite des Mitteljochs ist aufgrund eintretender Bauschäden schon 1729 durch den Anbau des großen Stützpfeilers verändert worden. Die mittlere Durchfensterung wurde verdeckt, und 1867 sind die noch freistehenden Fenster von Steffen weiteren Veränderungen unterworfen wurden. Von der ursprüngli-chen Gestaltung ist nur noch der Ziegelkreis der oben befindlichen Fensterrose vorhanden (Abb. 35).125 Da alles andere spurlos verschwunden ist, vermuteten die Kunsthistoriker Klasen/Kiesow und alle folgenden Autoren auch am Mitteljoch ehemals eine Dreifenstergruppe.126 Doch diese Annahme trifft nicht zu, Klasen/Kiesow berücksichtigten anscheinend nicht die überlieferten Zeichnungen der Bauaufnahme von 1844 (Abb.32, 32a). Zudem fallen alle Bemühungen, nach ihren Vorstellungen eine Rekonstruktion anzufertigen, unbefriedigend aus. Unabhängig davon kommen auch Roggatz und Lemke bei ihrer Bauuntersuchung zu dem Schluss, dass am Mitteljoch keine Dreifenstergruppe mehr vorhanden war. Die beiden heute vorhandenen Fensterbahnen, rechts und links vom großen Stützpfei-ler wurden nach den Plänen von C.W. Hase den Abmessungen der Fenster des Ostjochs angepasst, wodurch die Reste der ursprünglichen Fensterordnung ganz ausgelöscht wurden (Abb. 35, 41). In der Bauaufnahme von 1844 sind am Mitteljoch noch zwei der ursprünglichen vier Fenster-bahnen mit zwei Rundfenstern rechts und links vom Stützpfeiler zu sehen (Abb. 32, 32a). Die dazuge-hörigen zwei weiteren Fensterbahnen sind 1729 vom Stützpfeiler teilweise verdeckt und vermauert worden. Die Außenwand des Mitteljochs hatte also im unteren Bereich zwei mal zwei Fensterbahnen, über deren Mitte jeweils ein Vierpass-Rundfenster angeordnet war. Diese Gruppe wurde zentral im oberen Bereich von der großen Fensterrose abgeschlossen. Beim Umbau 1867 sind die Rundfenster herausgenommen worden, um die noch vorhandenen kleinen Fensterbahnen auf die heutige Größe erweitern zu können. Eines der beiden Vierpassmaßwerke ist als Blendfenster auf der Scheitelseite der Apsis über der Tür zur Sakristei wiederverwendet worden. Die damalige Beliebtheit von Fensterrosen zeigte sich am gesamten Bau der Klosterkirche Heisterbach, besonders an den Giebelseiten der Quer-schiffe; am westlichen sogar in Verbindung mit einer Dreifensterreihe (Abb. 9, 10). 122 BEINE 1986. 123 DEHIO 1967, S. 368. KUBACH/VERBEEK 1978. S. 369–377. 124 MÄKELT 1906, S. 99. 125 ROGGATZ /LEMKE 2001. Baubefund. 126 CLASEN/KIESOW 1957. S. 116.52 Abb. 32, 32a: Mariensee, Klosterkirche. Außen- und Innenansicht der Mitteljoch-Nordwand nach der Bauaufnahme von 1844, die den Zustand nach der Errichtung des Stützpfeilers im Jahre 1729 wiedergibt. Abbildung: Klosterkammer Hannover. Abb. 33: Lippstadt, Marienstiftskirche. Frühgotische Fenstergestaltung in Werkstein als negatives Maßwerk (Plattenmaßwerk), in ähnlicher Anordnung in Backstein am Mitteljoch von Mariensee ausgeführt. Foto: Andreas Sassen 2001. Mithilfe der Marienseer Zeichnungen aus der Bauaufnahme von 1844 gelingt es eine Rekon-struktion der mittelalterlichen Fensteranordnung anzufertigen (Abb. 36, 52, 53). Bisher zeigte sich, dass eine solche Fenstergruppierung wohl als Besonderheit der Backsteingotik nur in Mariensee ausgeführt wurde. In der architektonischen Entwicklung war sie eine Vorstufe zum Fens-termaßwerk und damit der Urtyp des großflächigen Maßwerkfensters in der späteren Gotik. Aufgrund der noch relativ geschlossenen flächigen Erscheinung und breiter Stege zwischen den Fensterbahnen wird es negatives Maßwerk oder Plattenmaßwerk genannt, weil die Öffnungen wie ausgestanzt er-scheinen. Die Entwicklung des Fenstermaßwerks bis hin zum Kathedralfenster ist anscheinend in Frankreich geschehen. Mäkelt führt frühe Entwicklungsstufen zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Werkstein an der Dorfkirche von Villers-Saint-Paul bei Creil an, wo im Chorbereich neben gestaffel-ten Dreifenstergruppen andere zwei- oder dreibahnige Fenster von Rundfenstern überkuppelt wer-53 den. 127 Heisterbach zeigte zu dieser Zeit keine Entwicklung in dieser Richtung, jedoch die Stiftskirche in Lippstadt (Abb. 33). Parallel versuchte man diese Anordnung wohl auch in Mariensee und erreichte eine relativ elegante Auflösung der Schildwandfläche – die Verfasser haben in ihrer Innenwand-Rekonstruktion sogar den Schritt zu einer fünften Fensterbahn gewagt (Abb. 53). Um die darüber lie-gende Gewölbelast abzufangen und über die Zwickel abzuleiten, führte man den Schildbogen mit mehreren Abstufungen wesentlich stärker aus, als zum Beispiel im Ostjoch. Das Prinzip dieses Schildbogens ist im Westjoch noch einmal wiederholt worden, doch für ein anderes Fenster. Letztlich blieb die Form der Wand-Fenstergestaltung in Richtung Maßwerk einmalig und beim Backstein ver-mutlich auf Mariensee beschränkt, denn Folgebauten oder Weiteren |